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Muslimische Tradition
Stellenwert der Toleranz im Islam

Knapp zwei Milliarden Gläubige hat der Islam, damit ist er die zweitgrößte monotheistische Weltreligion. Die Anerkennung des Anderen und Fremden gehört ganz fest in den islamischen Alltag und es gibt im Islam schon lange wissenschaftliche Diskurse über eine anerkennende Toleranz. Der Islamwissenschaftler Dr. Stephan Kokew hat sich mit Schriften einiger schiitischer Vordenker auseinandergesetzt.

Von Bettina Köster | 12.03.2015
    "Ein König macht ein Experiment. Er schließt einen Elefanten in einen dunklen Raum ein und sagt zu seinen Ministern geht mal in den Raum und verratet mir, was ich darin versteckt habe. Und natürlich ist es dunkel, die Leute können sich nur im Dunkeln ertasten, der eine greift das Bein des Elefanten, der andere den Rüssel, der andere den Schwanz. Also alle unterschiedlich und dann kommen sie raus und erzählen: Na ja, ich denke in dem Kasten war eine Säule, der andere sagt, nein ich glaube es war eine Schlange, der hat den Schwanz des Elefanten gehabt."
    Keiner der Minister kommt auf die Idee, dass sie auf einen Elefanten gestoßen sind. Es ist für die Geschichte auch unerheblich, denn sie soll eher zeigen, dass Menschen auf unterschiedlichen Wegen Gott suchen. Und der iranische Gelehrte Abdolkarim Sorus nutzt diese Geschichte als Grundlage für seine iranisch-islamische Interpretation der Toleranz, so Stephan Kokew. Besonders im Iran dient die Literatur immer wieder als Grundlage für eine Auseinandersetzung mit der Toleranz.
    "So zum Beispiel bei einem der größten iranischen Dichter Hafis, der in vielen seiner Gedichten eine Toleranzethik gegenüber nicht nur anderen Religionen, sondern in einem berühmten Vers spricht er davon, dass man gegenüber seinen Freunden großzügig sein soll und gegenüber seinen Gegnern Toleranz walten lassen soll. Also sie müssen sich immer im Gedächtnis behalten, dass Literatur in diesen Gesellschaften, also in der arabischen Welt und dann auch im persischen Sprachraum eine viel stärkere Bedeutung und auch unter den sogenannten normalen Menschen hat."
    Wir nehmen Literatur nicht so stark als Quelle ethischen Verhaltens wahr wie in den Kulturen des Nahen und Mittleren Ostens. Kokew meint deshalb, dass sich die islamischen Vordenker, deren Schriften der Islamwissenschaftler untersucht hat, weniger staatsphilosophisch mit dem Toleranzbegriff auseinandersetzen als in Europa.
    "Sie argumentieren einerseits säkular, andererseits religiös sehr stark und dann im iranischen Kontext ganz stark mit der eigenen literarischen Tradition also der persischen Literatur. Und das wirkt für uns Europäer auf dem ersten Blick immer etwas fremd, ja es gibt ja kein richtiges philosophische s Konzept da argumentieren sie mit der Religion und dann der Literatur, aber das ist genau das, worauf es im nahen, mittleren östlichen Kontext drauf ankommt. Wo die Grundlagen eben sind. Die sind eben nicht, wie das bei uns der Fall war, in der griechischen Antike."
    Kokew hat in seiner Untersuchung schiitische Autoren aus dem Iran, Irak, Saudi-Arabien und Bahrain miteinander verglichen. Dabei fand er beispielsweise heraus, dass sich der Toleranzbegriff in Saudi-Arabien in erster Linie auf den Dialogprozess mit der schiitischen Minderheit bezieht. In dem absolutistisch regierten Land ist es grundsätzlich schwierig das Herrschersystem infrage zu stellen und darüber öffentlich nachzudenken, beispielsweise Religion und Staat zu trennen.
    Die Diskurse der schiitischen Autoren, die Kokew analysiert hat, stehen immer im Kontext der eigenen Gesellschaft. So stellen sich viele Gelehrte aus dem Iran und Irak seit dem IS-Terror auch immer wieder grundsätzliche Fragen.
    "Warum können sich diese IS-Krieger überhaupt auf den Koran berufen, warum können sie sich auf bestimmte Stellen berufen und die so auslegen, wie sie wollen. Warum ist das in der eigenen Religion so möglich. Und es gab ein Treffen von führenden sunnitischen Gelehrten in Saudi Arabien, die Al-Azhar Uni war dort auch vertreten, also eines der wichtigsten Zentren des sunnitischen Islams, die eben über diese Fragen diskutiert haben, wie man eine Neuinterpretation des eignen religiösen Erbes vorantreiben könnte und da ging es vor allem auch um die Frage, wie man den Toleranzbegriff wieder neu füllen könnte, weil es eben wegen eines solch dramatischen Einbruchs des islamischen Extremismus in diesen Regionen eben darauf so gedrängt wurde."
    Der Austausch und das Nachdenken über Toleranz beziehen sich in den meisten islamischen Ländern in erster Linie auf den religiösen Kontext. Der Koran oder andere überlieferte Quellen von Mohammed werden immer als Grundlage für die Diskussion herangezogen. Der Islamwissenschaftler Stephan Kokew.
    "Der Koran spricht sich an mehreren Stellen für eine Anerkennung des Pluralismus aus. Und aus dieser Anerkennung wird in der islamischen Geistesgeschichte auch eine Ethik abgeleitet, die andere Meinungen und Auffassungen zulässt und dann im wahren Sinne des Wortes auch erträgt."
    In Europa entstanden nach den Glaubenskriegen erste Toleranztheorien jenseits des religiösen Zusammenhangs beispielsweise vom Philosophen John Lockes. Viele andere folgten und Anfang der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts veröffentlichte die UNESCO eine Toleranzdeklaration. Dort wird Toleranz als "Respekt, Akzeptanz und Anerkennung gegenüber Vielfalt" definiert.
    In den meisten arabischen Ländern herrscht jedoch ein großer Vorbehalt gegenüber der Toleranz, wie sie im europäischen Ausland oder den USA vorgelebt wird. Sie fürchten:
    "Wenn man jetzt Toleranz einfordert, ob das nicht dazu führe, dass die Gesellschaft irgendwie unmoralisch würde. Weil man mit Toleranz dann auch vor allem in den arabischen Gesellschaften immer versteht, na ja Toleranz heißt, dass man dann alles zulässt, dass die Moralvorstellungen aufgelockert werden. Und da wehrt sich der irakische Autor, der von Haus aus Theologe ist sehr stark dagegen und sagt, nein nur wenn man das Toleranzprinzip verwirklicht, heißt das nicht, dass die Gesellschaft unmoralisch wird. Er nimmt damit die Angst, dass die arabisch islamische Gesellschaft aufgeweicht wird."
    Gelebte Toleranz wird im muslimischen Alltag ganz groß geschrieben und in einer sehr wohlwollenden Haltung werden Gäste auch in ihrem anders und fremd sein angenommen. Trotzdem bleiben die Grenzen der Toleranz enger gesteckt als in Europa oder Nordamerika. So sind persönliche Lebensstile, zu denen auch die offen gelebte Homosexualität gehört, in vielen arabischen Ländern tabuisiert. Und islamische Intellektuelle beschäftigen sich nur damit, wenn sie im Ausland leben.