Dienstag, 16. April 2024

Archiv

"Musrara Mix Festival"
Religion trifft Popkultur in Jerusalem

Ein Trend in Israel: Pop-Musik und Religion mischen sich, sogar beim renommierten "Musrara Mix Festival" in Jerusalem. Ein Festival mit Performances und elektronischer Musik von jungen israelischen Künstlern - und das in der sogenannten Heiligen Stadt! Verändert das die Religion, den Pop oder beides?

Von Florian Rappaport | 14.06.2017
    Der israelische Sänger Shai Tsabari. (Bild: Gaya S. Turtle)
    Der Musiker Shai Tsabari verbindet in seiner Musik Religion und Pop (Gaya S. Turtle)
    Orientalische Mosaik verzieren die 100 Jahre alten Häuser in Musrara. Rote Schindeln auf den Dächern und Palmen und Kakteen in den großzügigen Innenhöfen: Hier leben viele Künstler und Kunststudenten. Und jetzt, in drei warmen Sommernächten im Juni, füllen sich diese Innenhöfe und Gassen mit Besuchern, die das angesagteste israelische Kunstfestival sehen wollen.
    Ausstellungen, Performances und Konzerte israelischer Künstler, die elektronische psychedelische Musik machen.
    "Das Konzert zum Ritual machen"
    Hunderte tanzen auf einem Platz. Auf der Bühne, ein bekannter israelischer Sänger: Shai Tsabari, 42 Jahre alt, kurze schwarze Haare, Bart und ein durchaus stattlicher Körperumfang.
    Dann springt er von der Bühne. Er sagt, er möge es nicht, wenn man ihn anschaut.
    "Ich liebe es, mit anderen zusammen singen und tanzen. Ich möchte die Grenze zwischen mir und dem Publikum niederreißen und das Konzert zu einem Ritual machen."
    Im Publikum sind einige Hipster, andere tragen Kippa, manche schwarze gehäkelte Kippas, das Erkennungszeichen national-religiöser Juden. Hier treffen sich Menschen, die sonst nicht viel miteinander zu tun haben. Aber sie alle feiern einen Musiker, dessen Texte religiös sind.
    Besucher: "Wow, the concert was amazing."
    Shai Tsabari: "It is totally religious."
    "Ich war ein religiöses Kind"
    Er singt über die Mädchen von Jerusalem und braungebrannte Haut: Es ist Salomons Hohelied. Die Bibel und alte jüdisch-liturgische Texte gehören zu seinen Inspirationsquellen. Shai Tsabari kommt aus einem religiösen Elternhaus.
    "Mein Vater ist ein Kantor, ein Vorsänger in der Synagoge."
    Die Klagemauer in Jerusalem mit dem Felsendom im Hintergrund.
    In der "heiligen Stadt" Jerusalem findet das Musrara Mix Festival statt (picture alliance / Mika Schmidt)
    Und von seinem Vater hat er auch gelernt, aus der Thora zu lesen, auf Melodien, auf die seine Vorfahren im Jemen schon aus der Thora lasen.
    "Ich war ein religiöses Kind. Das bedeutet, jeden Freitag und Samstag in die Synagoge gehen und an den Gebeten und Gesängen teilnehmen. Das war so was wie meine Gesangsschule. Da gibt es natürlich Wettbewerb zwischen den Kindern. Jeder will angeben. Der eine kann die Melodie besonders gut singen, der andere eine andere Melodie."
    Bolschewistische Musik
    Aber, anders als in ultra-orthodoxen Haushalten, durfte Shai zuhause das israelische Armeeradio hören:
    "But meanwhile, the radio was open."
    Damals spielte religiös-inspirierte Musik in der breiten Öffentlichkeit noch keine Rolle.
    "Das israelische Radio spielte sehr säkulare Musik."
    Bolschewistisch, sagt Tsabari sogar. Damals liebten Israelis die "Shirei Eretz Yisrael": Zionistische Lieder, die die Landwirtschaft in den Kibbuzim und die gemeinsame Arbeit beim Aufbau des Staates thematisierten - streng säkular. Doch irgendwann hatten sie davon genug.
    Harte Feldarbeit: Junge Frauen bei der Landarbeit unter der brütenden Sonnen auf dem Feld eines Kibbuz in Israel. (undatierte Aufnahme)
    Im Kibbuz wurde säkulare Musik bevorzugt (picture alliance / dpa / Heidi Sternberg)
    In Shais Kindheit in den 70ern und 80ern entdeckten die Israelis ihre Begeisterung für Rock und Pop aus Europa und Amerika.
    "Eine sehr pluralistische Atmosphäre um aufzuwachsen", sagt er.
    "Ein ganz besonderer Mix"
    Und jetzt, in den letzten 20 Jahren, sagt Shai, habe das israelische Radio wieder eine Revolution durchgemacht.
    "Auch säkulare Künstler benutzen Zitate aus der Bibel oder aus liturgischen Texten. Die Musik im Radio ist von Musik aus den Synagogen beeinflusst. Das ist ein ganz besonderer Mix in Israel."
    Und diese Synagogenmusik stammt meist aus der sephardischen Tradition - orientalische Klänge, mitgebracht von Juden, die aus dem Nahen Osten und Nordafrika nach Israel eingewandert sind.
    Bei dieser Revolution ist Shai Tsabari ganz vorne mit dabei. Er hat zum Beispiel einen Hit mit Idan Raichel gelandet - ein anderer israelischer Star mit Dreadlocks, der auch alte hebräische Texte in seiner Musik verarbeitet.
    Religiös motivierte Musik liegt im Trend - im Radio und beim Musrara Mix Festival.
    "Nicht nur mit dem Kopf arbeiten"
    Hier vertont Tsabari ein 1000 Jahre altes rabbinisches Gedicht.
    Das Publikum tanzt und singt und klatscht. Fast schon religiös, so wie chassidische Juden sich beim Tanzen in religiöse Ekstase bringen, um Gott näher zu kommen.
    "Chassidische Rabbiner nutzen den Tanz, um Gott anzubeten. Sie nutzen nicht nur Gebete, nicht nur Intellektuelles. Du sollst nicht nur mit deinem Kopf arbeiten, sondern auch mit deinen Beinen - und mit dem Beat und der Melodie."
    Ultra-Orthodoxe Chassiden tanzen bei einer Hochzeit in Bnei Brak, Israel im Juni 2012. (Bild: EPA / Abir Sultan)
    Bei chassidischen Juden spielt der Tanz eine große Rolle (EPA / Abir Sultan)
    Und so weitet sich gerade der Musikgeschmack in Israel. Sephardisch geprägte Musik - vor Jahrzehnten noch verpönt - dominiert heute den Mainstream. Und immer mehr religiöse oder zumindest spirituelle Themen finden den Weg in die Musik.
    "Ich lasse mich von Gefühlen führen"
    Die Pop-Welt öffnet sich. Spannend ist, ob sich nun auch die Grenzen innerhalb der Orthodoxie weiten. Darauf hoffen nicht nur Musiker wie Shai Tsabari, der sich immer wieder anlegt mit dem orthodoxen religiösen Establishment.
    "Ich bin kein gläubiger Mensch - jedenfalls nicht im offiziellen Sinn. Aber ich habe religiöse Gefühle. Und ich lasse mir von niemandem Vorschriften machen. Ich lasse mich führen von den Gefühlen, die entstehen im Kontakt mit dem Publikum."