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Mystiker der Liebe

Ivan Turgenev ist in Deutschland als der große Realist bekannt, der mit seinen wunderbaren Erzählungen "Aufzeichnungen eines Jägers" und den Romanen "Väter und Söhne", "Das Adelsnest", "Rauch" unter anderem die soziale und gesellschaftliche Entwicklung des bäuerlichen Russland von den 40er bis 70er Jahren des 19. Jahrhunderts poetisch kommentiert hat. Der als "Westler" bekannte Schriftsteller hat deshalb mit seinem Werk in den ideologischen Debatten über den weiteren Weg Russlands immer eine wichtige Rolle gespielt.

Von Karla Hielscher | 01.06.2006
    Aber es gibt noch einen ganz anderen Turgenev: Der bedeutende Autor, der Jahrzehnte seines Lebens seiner schicksalhaften Liebe zu der damals europaweit berühmten verheirateten Sängerin Pauline Viardot folgte und immer in ihrer Nähe in Baden-Baden und Bougival bei Paris wohnte, ist nämlich auch ein großer Traumseher und Mystiker der Liebe.

    Gerade in seinem Spätwerk nimmt er diese Linie wieder auf, und es ist dem Züricher Dörlemann Verlag zu danken, dass er - in der bewährten Übersetzung von Dorothea Trottenberg und wie immer mit Anmerkungen, Nachwort und Literaturhinweisen versehen - den deutschen Leser mit dieser Seite von Turgenev bekannt macht.

    In dem Band "Klara Milič" sind zwei Novellen vereint, in denen es um die unwiderstehliche Macht der Leidenschaft und die Abgründe der Liebe geht. Neben der im Ferrara des 16. Jahrhunderts spielenden Novelle "Das Lied der triumphierenden Liebe", ist es vor allem die längere Titelgeschichte, im Russischen eine so genannte Povest`, also ein Kurzroman, der ein Kabinettstück faszinierender, vielschichtiger erotischer Prosa darstellt.

    Angeregt zu diesem Kurzroman wurde Turgenev durch den Selbstmord einer begabten Schauspielerin, die sich 1881 in Charkov auf offener Bühne vergiftete, ein authentischer Fall, der Rußland erregte, und auch von anderen Schriftstellern, u.a. von Čechov, aufgegriffen wurde.
    Turgenev verarbeitete das aufwühlende Geschehen nach eigenen Worten zu einer "halbphysiologisch - halbphantastischen" langen Novelle, die 1883, im Jahr seines Todes, erschien und sogleich Furore machte.

    Der zunächst von Turgenev vorgesehene und vom Redakteur als zu düster empfundene Titel der Geschichte lautete "Nach dem Tode". Der eigentliche Protagonist ist nämlich nicht die unglückliche, exzentrische Schauspielerin Klara Milič, sondern der zurückgezogen und in mönchischer Askese lebende Privatgelehrte Jakov Aratov, der erst nach ihrem pathetisch inszenierten Freitod ganz in ihren Bann gerät und dem Liebeswahn zu einer Toten verfällt.

    Nach einem fesselnden und verstörenden Auftritt Klara Miličs auf einer Matineé, bei der sie ihn ganz offensichtlich mit ihrem Blick fixierte, hatte sich zwar "irgendetwas wie ein Häkchen in seiner Seele festgesetzt", die dunkelhäutige, schwarzhaarige und irgendwie zügellos und aufdringlich auf ihn wirkende Schauspielerin, widerspricht aber so absolut seinem keuschen Idealbild von Frau, dass er auch die von ihr eingeforderte Begegnung mit ihr sehr bald wieder verdrängt. Als er viel später in der Zeitung auf die Nachricht von ihrem Selbstmord stößt, erwacht zunächst sein psychologisches Interesse. Im Lauf seiner Nachforschungen über die Beweggründe ihrer schrecklichen Tat - er reist nach Kazan zu ihrer Familie, erhält Tagebuchaufzeichnungen und ein Foto von ihr - entwickelt sich ein komplizierter psychischer Prozeß, in dem die Tote kraft ihrer willensstarken Leidenschaft und Besessenheit immer mehr Macht über ihn gewinnt. Aratov, der sie als Lebende abgewiesen hatte, wird nach ihrem Tod mit magischer Gewalt von ihr erobert.

    Anknüpfend an Schopenhauers "Versuch über das Geistersehen" werden in der Erzählung mit symbolreichen Träumen, mysteriösen Halluzinationen bis hin zur materialisierten Erscheinung der Widergängerin die Grenzen zwischen den Bereichen des Lebens und denen des Todes in ihrer beunruhigenden Unbegreiflichkeit erkundet. Dabei geht es um den Zusammenhang von Eros und Tod, der dem Tod auf wunderbare Weise seinen Stachel nimmt.

    Das Spannende liegt nun vor allem darin, dass es eine Photographie der Toten - also eine damals äußerst moderne Errungenschaft - ist, die als Medium der irritierenden Vorgänge fungiert. Der an der mathematisch-physikalischen Fakultät ausgebildete Aratov mit seiner Leidenschaft für die Photographie, der das für ihn rätselhafte Geschehen selbst immer wieder reflektiert, wird gleichsam zum Opfer der Nachtseite der Naturwissenschaft.

    Die Erzählung changiert absichtsvoll zwischen Empirie und Aberglauben, Natürlichem und Übernatürlichem, psychologisch Erklärbarem und Magie. Die Deutung der leidenschaftlichen und beglückenden Vereinigung Aratovs mit der zu spät Geliebten im Tod bleibt ambivalent und offen.

    Deshalb handelt es sich eben nicht um eine allein in der Tradition der Romantik stehende phantastische Spukgeschichte, sondern um eine nachdenkliche, tiefsinnige literarische Reaktion auf den im 19. Jahrhundert verbreiteten platten materialistischen Positivismus. Mit der erstaunlichen Bedeutung der Träume für den Menschen, der Frage nach dem unergründlichen Grenzübertritt zwischen Leben und Tod, nach der Macht des Eros, wird die bleibende Bedeutung des Irrationalen und Unerklärbaren im Leben des Menschen betont. In diesem Sinne ist diese packende Erzählung eben doch das Werk eines großen realistischen Schriftstellers.