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Mythos Märtyrer

Am kommenden Mittwoch feiert der Iran Ashura, das Bußfest des Schiismus, das symbolisch betrachtet für den Kampf in vermeintlich aussichtsloser Situation steht. Zu erwarten ist, dass Ashura in diesem Jahr besonders im Zeichen des schiitischen Selbstbewusstseins stehen wird, das der Iran besonders jetzt pflegt, da die Auseinandersetzung mit Israel einen neuen Höhepunkt erreicht und der Iran zur Vergeltung für die israelischen Angriffe auf Gaza aufgerufen hat.

Von Ulrich Pick | 03.01.2009
    Ganz im Süden Teherans auf Sichtweite zu den Goldenen Kuppeln des Mausoleums von Ayatollah Khomeini befindet sich ein fünf Quadratkilometer großer Friedhof. Sein Name lautet Behesht-e-Zahra - das Paradies der Sarah - und ist der Tochter des Propheten Mohammed gewidmet. Ein eigens markiertes Feld dieses riesigen Geländes gilt den so genannten Märtyrern. Gemeint sind die Kämpfer der Islamischen Revolution sowie die Toten im Krieg gegen den Irak in den 80er Jahren. 30.000 von ihnen haben hier ihre letzte Ruhe gefunden, und jeder hat auf dem Grab einen eigenen kleinen Schaukasten, in dem ein mittlerweile verblasstes Foto zu sehen ist. Viele von ihnen waren Jugendliche, die sich mit einer Granate in der Hand und einem Plastikschlüssel um den Hals als Zeichen für das wartende Paradies vor die feindlichen Panzer warfen. So ging auch der damals 14-jährige Mehrdad Azizollahi aus Isfahan an die Front und erklärte zuvor seinen Freunden, dass dies für ihn eine Art religiöser Akt sei:

    "Es waren die brüderlichen Kämpfer, die mir von der Front erzählten und mich überzeugten. Sie erzählten mir von der menschlichen Umwandlung in jeder Hinsicht und, dass die Menschen von ihren Unreinheiten befreit würden. Dort im Paradies würden keine Sünden mehr begangen. Deshalb bin ich hierher gekommen, um Gottes Willen zu erfüllen und mich zu befreien von meinen Sünden."

    Dass Ayatollah Khomeini einst seine Mobilmachung so erfolgreich theologisch untermauern konnte, liegt an der zentralen Bedeutung des Märtyrertums für den Schiismus. Denn der Gründungsmythos dieser in Iran mehrheitlich praktizierten Form des Islams liegt letztlich in einem Opfertod. Die Passion des Prophetenenkels Hussein hat sich nämlich ins kulturelle Gedächtnis der Schiiten eingegraben wie kein zweites Ereignis in der Geschichte ihrer Religion.

    Im Zentrum steht dabei die Schlacht von Kerbela im Jahr 680, die die endgültige Trennung zwischen Sunniten und Schiiten besiegelte. Damals scheiterte nämlich die schiitische Hoffnung, ihren dritten Imam, Hussein, zum Kalifen zu machen - also zum Oberhaupt der gesamten islamischen Gemeinde. Denn Hussein, der von großer Opferbereitschaft gekennzeichnet war, trat zusammen mit nur 71 Getreuen gegen das 10.000 Kämpfer zählende Heer der Ommayaden an und ging unter.

    Die Schlacht von Kerbela steht seitdem nach schiitischer Lesart symbolisch für den Kampf zwischen "Gut und Böse". Und jedes Jahr am Ashura-Fest, dem 10. Tag des islamischen Trauermonats Moharram, wird der Ereignisse von einst gedacht. Wie bei den christlichen Prozessionsspielen führen Laienschauspieler die Ereignisse mit großer Anteilnahme auf und unter dem rhythmischen Gesang wortgewaltiger Vorsänger geißeln sich gestandene und tiefgläubige Männer mit Ketten und Peitschen, um die Niederlage Husseins zu beklagen und symbolisch für sie zu büßen.

    Aus diesen Zeremonien -so heißt es - beziehen die Schiiten ihre Glaubensstärke und ihre Widerstandskraft. Denn nicht nur der Opfertod Husseins ist ein für die Mehrheit der Iraner prägendes Ereignis. Letztlich werden alle elf Nachfolger des Propheten, die die Schiiten "Imame" nennen und eines unnatürlichen Todes gestorben sind, von ihnen als Märtyrer verehrt. Im Volksglauben werden sie immer wieder angerufen und prägen zudem den Alltag, Und deshalb sagte der ehemalige Parlamentssprecher Gholam-Ali Haddad-Adel mit Blick auf die oft skeptischen Blicke aus dem Westen:

    "Sie verstehen nicht, dass eine Bewegung in der islamischen Welt begonnen hat, die sie nicht mehr stoppen können. Unser verstorbener Führer Khomeini hat sie ausgelöst und diese Fahne wird heute vom Führer unseres Volkes und den Märtyrern hoch gehalten."

    Wer sich durch Teheran bewegt, tritt immer wieder in Kontakt mit so genannten Märtyrern. Denn zahlreiche große Häuserfronten zieren die Konterfeis von sterbenden Männern, die für die Islamische Republik ihr Leben gelassen haben. Zudem tragen fast alle großen Autobahnen in der iranischen Hauptstadt die Namen von Menschen, die als Märtyrer verehrt werden. Darüber hinaus gibt es eine eigene Internetseite, auf der die iranischen Märtyrer aufgelistet werden. Im Laufe der Jahre sind es über 200.000 geworden, so dass wegen des häufigen Gebrauchs dieses Titels mittlerweile sogar Kritik von Theologen kommt: Dieser inflationäre Gebrauch schwäche den Glauben. Dass diese Kritik berechtigt ist, zeigt vor allem die städtische Jugend in Iran. Bei ihr nämlich scheint die islamische Staatsdoktrin immer weniger zu fruchten. Denn sie nimmt eine tiefe Diskrepanz wahr zwischen den hohen Worten der Politik und der vielfach bescheidenen Realität. Und so nimmt es nicht wunder, dass diese junge Frau aus Teheran frank und frei bekennt:

    "Der Märtyrertod hat für mich und meine Freunde keinen besonderen Stellenwert. Wir gehen zur Schule, um zu lernen und ein besseres Leben zu haben und nicht um zu sterben. Wir haben auch keine besondere Idee oder keinen Glauben, wofür wir uns opfern müssen."