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Mythos Monte Verità

Um die Wende zum 20. Jahrhundert zog eine bunte Truppe zivilisationsmüder aber hochkreativer junger Leute von München über die Alpen, um am Monte Verità ihren Traum vom ganz anderen Leben zu verwirklichen. Auch Schriftsteller wie Erich Mühsam oder Hermann Hesse fühlten sich vom alternativen Lebensstil nahe Ascona inspiriert.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 05.07.2009
    "Das Kuriositäten-Kabinett" heißt ein 1923 erschienenes Buch des ungarischen Kulturreporters Emil Szittya, dessen Untertitel aufzählt, was darin so alles vorkommt, nämlich "Begegnungen mit Landstreichern, Verbrechern, Artisten, religiös Wahnsinnigen, sexuellen Merkwürdigkeiten" sowie – in Fortführung der Aufzählung: "Sozialdemokraten". Das Buch liegt gleich in der ersten Vitrine der Ausstellung, denn Szittya lebte selber eine Weile auf dem Monte Verità und beschrieb die dortige Szene ebenso anschaulich wie unzuverlässig. Wahr ist jedenfalls, dass es sich bei dem kulturgeschichtlichen Phänomen namens Monte Verità um ein unglaublich dichtes Beziehungsgeflecht aus etwa 500 Einzelschicksalen und Lebenslinien handelt.

    "Deswegen ist das auch interessant, weil das nicht nur seltsame Typen waren, die sich da immer nacheinander wiedergefunden haben, sondern das waren alles verschiedene Konzepte, die man so schichtweise aufdecken kann und die vielleicht gescheitert sind und vielleicht aber auch auf andere Weise an anderer stelle Folgen gehabt haben",

    sagt die Münchner Autorin und Schwabing-Historikerin Ulrike Voswinckel, die sich seit über 30 Jahren mit der Geschichte dieser Tessiner Landkommune und Künstlerbohème beschäftigt, seit nämlich Harald Szeeman den Originalschauplatz am Lago Maggiore in der Nähe von Ascona kulturarchäologisch wiederentdeckt hatte. Die unverkennbare Bass-Stimme des Ausstellungsmachers Szeeman tönt jetzt in der Münchner Ausstellung alle paar Minuten vom Band.

    "Der Monte Verità hat diese ungeheure Geschichte. Es ist wirklich der einzige Hügel der Utopien, den wir fast in Mitteleuropa haben und der noch intakt ist."

    Ob es an den magnetischen Anomalien des Ortes lag, wie Szeemann vermutete, an der Liberalität der Tessiner Behörden, am guten Wetter, am Zufall oder an gut informierten Kundschaftern? Jedenfalls zog um die vorletzte Jahrhundertwende eine buntgemischte Gruppe zivilisationsmüder und erfahrungshungriger junger Leute von München über die Alpen, um den Traum vom ganz anderen Leben zu verwirklichen.

    "Die wollten sehr viel auf einmal machen. Das war ja eine Lebensreform, eine Körperreform, eine Seelenreform, eine Geistreform und Kleiderreform, Schriftreform – und dieses alles gleichzeitig war sicher schwer zu verwirklichen."

    Zumal sich die verschiedenen Monte-Verità-Bewohner und -Besucher auch kräftig zerstritten. Da waren der belgische Industriellensohn Henri Oedenkoven mit seiner elf Jahre älteren Geliebten, der Klavierlehrerin und Frauenrechtlerin Ida Hofmann, da waren die radikalen Naturburschen Karl und Gusto Gräser, und da waren alsbald jede Menge Prominente wie Erich Mühsam, Otto Groß, Friedrich Glauser, die Gräfin Reventlow und Hermann Hesse.

    "Am Monte Verità, wo er zuerst hingegangen ist, um sich einer Alkoholentziehungskur zu unterziehen. Da hat er Gusto Gräser kennengelernt und von dem vielleicht erhofft, etwas von ihm zu lernen, nämlich dieses vollkommen selbstverständliche In-der-Natur-Sein. Und hat dann immer wieder so Selbstversuche gemacht, wo er sich nackt tagelang in diese Gräser-Höhle oder in eine andere gelegt hat und vollkommen zerschunden und zerstochen und mit Sonnenbrandschwären und ich weiß nicht was – und er hat eigentlich gehofft, sein Inneres oder seinen Geist dadurch zu verändern und hat das eigentlich ziemlich schön beschrieben, dass das ihm körperlich sehr gut getan hätte, nachdem er es überstanden hatte, aber dass sein Geist kein anderer geworden sei – und das ist eigentlich auch ganz lustig."

    Es gibt einige Fotos aus jener Zeit, die einen Eindruck von dieser Annäherung an das Nacktleben vermitteln. Sie zeigen Frauen und Männer, die Ringelreihen tanzen oder die Sonne anbeten, und in ihren Minen spiegelt sich eine Heilserwartung und Heilszuversicht, die an erotische Pulsionen gar nicht erst denken lässt. So feixte Erich Mühsam denn auch schon von Anfang an über das vegetarische Eheleben der kinderlos gebliebenen Sanatoriumsbesitzer und überlegte angestrengt, ob wohl der Vegetarismus impotent mache oder ob nur Potenzschwache zum Vegetarismus neigen.

    Der Bogen jener 15, 20 Jahre, von der Jahrhundertwende bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg, von Oedenkoven zu den Dadaisten, von Gräser zu Groß und von der Askese zur Bohème umfasst einen ganzen Kosmos von teils tiefsinnigen, teils blödsinnigen Lebensexperimenten, Ausbruchsversuchen, Gegenentwürfen, Mythologien und Utopien. Dokumentiert ist die Geschichte reichlich, da jede Menge Künstler und Publizisten in sie involviert waren. Einen Großteil des Materials konnte Ulrike Voswinckel aus der Monacensia-Sammlung der Münchner Stadtbibliothek schöpfen, denn Alfred Schuler, Ludwig Klages und Karl Wolfskehl, Johannes R. Becher, Leonhard Frank und Oskar Maria Graf – sie alle waren gleichermaßen prägende Figuren des Münchner Kulturlebens wie der Entwicklung auf dem Monte Verità.