Freitag, 19. April 2024

Archiv

Nabokovs Vorlesungen
Stil als Schlüsselbegriff für den ästhetischen Wert

Vladimir Nabokov, der Autor unter anderem von "Lolita", gab ab 1948 Vorlesungen an der Cornell University in Ithaka im Bundesstaat New York. Schon damals sah er in einem guten Schriftsteller vor allem den Bezauberer.

Von Eberhard Falcke | 05.04.2015
    Vladimir Vladimirovic Nabokov, amerikanischer Schriftsteller russischer Herkunft. Seine wichtigsten Werke sind: "Das wahre Leben des Sebastian Knight", "Fahles Feuer", "Ada oder Das Verlangen". Einen Skandalerfolg hatte der Autor mit seinem zunächst als pornographisch missverstandenen Roman "Lolita" über das Empfinden eines älteren Mannes für ein zwölfjähriges Mädchen.
    Vladimir Vladimirovic Nabokov, amerikanischer Schriftsteller russischer Herkunft (picture alliance / dpa / UPI)
    Einerseits, andererseits mögen sich da viele sagen. Gewiss, keine Frage, wer möchte nicht Nabokov lesen? Aber müssen es ausgerechnet seine Vorlesungen sein? Kann es sich dabei nicht zwangsläufig nur um akademische Erörterungen handeln, noch dazu für ein studentisches Publikum, das damit seine Prüfungen bestreiten sollte? Doch andererseits: Wann gibt es schon mal die Gelegenheit, bei einer solchen Kapazität der Weltliteratur einen Literaturkurs mitzumachen, zumindest im Lesesessel?
    Ganz abgesehen davon, dass Vladimir Nabokov immer mit kompromissloser Entschiedenheit für das eintrat, was er für die wesentlichen Eigenschaften der Literatur ansah. Das heißt, er geißelte mit unversöhnlicher, doch sehr unterhaltsamer Lästerlust all das, was er gering schätzte. Und das Wesentliche an der Literatur erklärte er schon in der Einleitung zu seiner Vorlesungsreihe so:
    "Literatur ist Erfindung. Romane sind Fiktion - etwas Vorgestelltes, Erdachtes. Eine Geschichte als wahr zu bezeichnen, ist eine Beleidigung für Kunst und Wahrheit zugleich. Jeder große Schriftsteller ist ein großer Schwindler."
    Nun gut: Dass Literatur Erfindung sei, das ist eher ein Gemeinplatz als ein origineller Gedanke. Aber das war ja auch nur das erste Wort. Denn der Eigenwille Nabokovs entfaltete sich erst richtig in seinen Ausführungsbestimmungen zu diesem Grundsatz. Und die hatten es, so rigoros und unbeirrt wie er dafür eintrat, durchaus in sich.
    Wann immer sich die Gelegenheit ergab, stimmte er seinen Cantus Firmus an: Dass Literatur mit Wahrheit überhaupt nichts zu tun habe; dass sie nicht geschaffen wurde, um über die Wirklichkeit etwas auszusagen; dass sie weder als Analyse oder Kritik irdischer Verhältnisse noch als utopischer Verbesserungsvorschlag verstanden werden dürfe; dass all ihre Kostbarkeit in den Einzelheiten liege, wogegen allgemeine Ideen und Begriffe völlig unbedeutend seien.
    Romane als große Märchen
    Mit solchen Überzeugungen, zusammengefasst in dem Diktum, dass Romane große Märchen seien, war Nabokov gewappnet, sich die längste Zeit seines Lebens mit einem beträchtlichen Teil der literarischen Welt anzulegen. Mit Ausnahme der 50er-Jahre vielleicht, wie kein Geringerer als der große Gesellschaftschronist John Updike in seinem Vorwort betont:
    "Die 1950er-Jahre mit ihrer Empfänglichkeit für hermetisches, nicht engagiertes Künstlertum und ihrem durch den New Criticism inspirierten Glauben, dass alle wesentliche Information im Kunstwerk selbst enthalten sei, bildeten eine angemessenere Bühne für Nabokovs Vorstellungen als die folgenden Jahrzehnte. Doch in jedem anderen Jahrzehnt hätte Nabokovs Darstellungsweise wohl durch ihre Schärfe, mit der sie zwischen Wirklichkeit und Kunst trennt, radikal gewirkt."
    Tatsächlich waren die 50er-Jahre die Entstehungszeit von Nabokovs "Vorlesungen über westeuropäische Literatur". Neu übersetzt und herausgegeben liegen sie nun als Band 18 der von Dieter E. Zimmer betreuten Werkausgabe vor.
    1948, im neunten Jahr seines Aufenthalts in den USA, wurde Nabokov außerordentlicher Professor für slawische Literatur an der Cornell University in Ithaka im Bundesstaat New York. Neben der russischen Literatur gehörten zu seinen Lehrverpflichtungen auch die "Meister der europäischen Erzählliteratur". Nach Beratschlagungen mit seinem Freund, dem Schriftsteller und Kritiker Edmund Wilson, traf er für die entsprechende Vorlesungsreihe eine Autoren- und Werkauswahl, die er über die Jahre beibehielt. Sie reichte vom frühen 19. Jahrhundert bis auf die Höhen der Moderne und umfasste Werke von Jane Austen, Charles Dickens, Gustave Flaubert, Robert Louis Stevenson, Marcel Proust, Franz Kafka und James Joyce.
    Stil als Schlüsselbegriff für den ästhetischen Wert
    Und bei der Betrachtung von deren Romanen und Erzählungen setzte Nabokov eben ganz auf das werkimmanente Kriterium des Stils als Schlüsselbegriff für den ästhetischen Wert. Obwohl er im Schriftsteller auch den Geschichtenerzähler und den Lehrer anerkannte, setzte er weit über diese beiden eine dritte Kompetenz:
    "Letztlich und vor allem ist ein großer Schriftsteller immer ein großer Bezauberer. Und hier kommen wir zu dem wirklich spannenden Teil, in dem wir den individuellen Zauber seines Genies zu erfassen versuchen und den Stil, die Bildlichkeit, das Muster seiner Romane untersuchen."
    Nabokov wollte weder Literaturgeschichte betreiben - Epochenbegriffe lehnte er ebenso ab, wie andere Allgemeinbegriffe - noch gedachte er, sich mit Komparatistik und der Analyse von Einflüssen zu befassen. Allein die literarische Kunst im engsten Sinn und ihre Verfertigung sollte sein Thema sein. Und es ist wahr: Den Kunstgriffen, denen bei der Herstellung des poetischen Zaubers eine entscheidende Rolle zufällt, kam er dabei oftmals sehr genau auf die Schliche. Frische, prägnante Formulierungen, die nicht angekränkelt waren von der lahmen Geläufigkeit der Klischees: Sie boten dem Dichter hinter dem Katheder immer Anlass zu Anerkennung, wenn nicht Begeisterung. Wie zum Beispiel im Falle der Lichtkreise auf dem Wasser in einer Hafenschilderung in Dickens' Roman "Bleakhaus", die Nabokov zum Anlass einer auch in eigener Sache gültigen Grundsatzerklärung nahm:
    "Manche Leser mögen annehmen, Dinge wie diese Evokationen seien Nichtigkeiten, doch Literatur besteht aus solchen Nichtigkeiten. In der Tat besteht Literatur nicht aus allgemeinen Ideen, sondern aus einzelnen Offenbarungen, nicht aus Denkschulen, sondern aus genialen Individuen. Literatur handelt nicht von etwas: Sie ist dieses Etwas selbst, ihre eigene Wesenheit. Ohne das Meisterwerk gibt es keine Literatur."
    Auch wenn es nicht um Semesterabschlussklausuren geht, ist also aus Nabokovs Vorlesungen für alle Anhänger der Schreibkunst noch immer eine Menge zu lernen. Umso mehr heutzutage, da Kurse für literarisches Schreiben auch bei uns Hochkonjunktur haben. Dennoch wäre es eine verfehlte Hoffnung, zu erwarten, dass der anspruchsvolle Meister für die Missverhältnisse von Wollen und Können irgendwelche Nachsicht erübrigt hätte.
    "Wenn wir von Stil reden, meinen wir damit die spezielle Wesensart eines Künstlers und die Art und Weise, wie sie sich in seinem künstlerischen Werk ausdrückt. Seine Ausdrucksweise kann ein Autor durchaus perfektionieren. Aber ein Schriftsteller ohne Talent kann keinen literarischen Stil von Wert entwickeln; im besten Fall wird es ein künstlicher, planvoll zusammengesetzter Mechanismus sein, dem der göttliche Funke fehlt."
    Persönliches Gespür und ohne spezielle wissenschaftliche Methode
    Wie aber ging Nabokov als akademischer Lehrer bei der Textanalyse vor? Ganz allgemein gesagt: Mit seinem sehr persönlichen Gespür und ohne spezielle wissenschaftliche Methode. Oder anders: Nabokov war ein hochtrainierter Leser mit einem höchst wachen Sensorium für alle Ebenen poetischer Konstruktion. Hinzu kam die spezifische Betrachtungsweise des Schriftstellers, dessen Erfahrungen mit der eigenen Arbeit seinen Blick auf andere Werke schärften. Die schon seit dem Kindesalter geschulte Intuition spielte dabei gewiss eine prägende Rolle. Diese Art der literarischen Bildung durch Liebhaberei zeigt sich auch noch in der Form, wie Nabokov seine Vorlesungen anlegte. Das begann schon bei der Auswahl der behandelten Werke, wie aus dem Briefwechsel mit Edmund Wilson hervorgeht, der ihm unter anderen Jane Austen ans Herz gelegt hatte.
    "Danke für den Vorschlag, meinen Literaturkurs betreffend. Jane mag ich nicht und bin überhaupt gegen alle Schriftstellerinnen voreingenommen. Sie gehören einer anderen Klasse an. Statt Jane Austen werde ich Stevenson nehmen."
    Tatsächlich nahm er dann beide, "Mansfield Park" von Jane Austen und "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" von Stevenson. Und wer weiß, war es Zufall oder Psychologie? Bei beiden brachte er dann doch, trotz aller Würdigungen, einige Einwände an. Unter seinem kritischen Blick zerspringen etwa "die grazilen Muster" der Jane Austen im Vergleich mit Dickens dann doch zu einer, wie er das nannte, "Sammlung von Eierschalen in Watte".
    Auch der Aufbau der Vorlesungen war vor allem durch eine kenntnisreiche Liebhaberei geprägt. In der Regel begann der bei seiner Studentenschaft beliebte Professor mit einigen biografischen Informationen zu den Autoren, darauf folgten ein paar magere Stichworte zur Entstehungsgeschichte des behandelten Werkes und dann ging es ganz textimmanent ohne Seitenblicke auf Epoche oder historische Bedeutsamkeiten schon zur Sache, zur Romanhandlung, deren Aufbau, Erzählperspektive und den Finessen der Komposition.
    "Stil und Aufbau machen das Wesen eines Buches aus; große Ideen sind großer Quatsch."
    Nähe zur Methode des Close Reading
    Obwohl Denkschulen nicht Nabokovs Sache waren, zeigte er bei der Vorgehensweise in seinen Vorlesungen doch einige Nähe zur Methode des Close Reading, der genauen, textimmanenten Interpretation des New Criticism. Auf eine genaue Analyse verschiedener Textstellen bei Flaubert zum Beispiel folgt wie eine Apotheose die feierliche Schlussfolgerung:
    "Der Gegenstand mag gemein und abstoßend sein. Seine Behandlung ist kunstvoll moduliert und ausgewogen. Das ist Stil. Das ist Kunst. Das ist das Einzige, worauf es bei Büchern wirklich ankommt."
    Wie sehr für Nabokov der Text - und sonst nichts - im Mittelpunkt stand, das unterstreichen die zahlreichen und oft seitenlangen Werkzitate, die er in die Vorlesungen einbaute und zweifellos mit Hingabe rezitierte. Das heißt, wir müssen als heutige Leser bei der Lektüre nicht ständig in Flauberts "Madame Bovary", Kafkas "Verwandlung" oder Joyces' "Ulysses" blättern, um Nabokovs Ausführungen folgen zu können. Die Vorlesungen sind außerordentlich gut lesbar. Allerdings erhebt sich, wenn sich das Erstaunen darüber gelegt hat, dann doch die Frage: Wer hat eigentlich diese lückenlos durchgeschriebenen, nie stichwortartigen, niemals an Notizen gemahnenden Texte verfertigt? Sollte Nabokov mit diesen komplett ausformulierten Vorträgen in den Hörsaal gegangen sein oder was haben wir hier eigentlich vor uns?
    Da kommt nun erneut ein ganz großes Einerseits/Andererseits ins Spiel. Denn der amerikanische Herausgeber Fredson Bowers hat, wie sein deutscher Kollege Dieter E. Zimmer verrät, ohne Kennzeichnung zahlreiche Ergänzungen und Bearbeitungen vorgenommen, um aus den originalen Skripten und Notizen lesbare Textfassungen herzustellen. Gut möglich, dass er glaubte, damit ganz im Sinne Nabokovs zu handeln. Schließlich plante der selber einmal, die Früchte seiner akademischen Tätigkeit für eine Publikation zu überarbeiten. Doch diese textkritischen Ungewissheiten sind noch nicht alles. Als nämlich die Vorlesungen bereits erschienen waren, tauchte bei der weiteren Durchsicht des Nachlasses ein Zettel mit einer strikten Anweisung ganz anderer Art auf:
    "Meine Universitätsvorlesungen sind chaotisch und schludrig und dürfen niemals veröffentlicht werden. Keine einzige!"
    Natürlich kann heute niemand mehr das Rad zurückdrehen. Was einmal heraus ist, das lassen sich Neugier und Wissensdurst der Nachwelt nicht mehr wegschnappen. Und wenn nun in den Vorlesungen auch nicht jedes Wort vom Autor ganz persönlich an seinen Platz gesetzt wurde, so liefert diese Edition immerhin ein sehr gutes Bild davon, womit Nabokov damals fast zwei Jahrzehnte den Unterhalt für sich und seine Familie bestritt, bis ins Jahr 1959, als ihn die reichlich sprudelnden Tantiemen für seinen Romanerfolg "Lolita" finanziell endlich unabhängig machten. Ganz zu schweigen von den oft sehr direkten, unverstellten Zugängen, die er zu den Werken eröffnete. In Bezug auf den "Ulysses" von Joyce und auf Stevenson hieß das etwa:
    "Statt immer und ewig den hochgestochenen Unsinn von den Homeranalogien der Episoden wiederzukäuen, sollte man als Lehrender lieber einen Stadtplan von Dublin anfertigen, auf dem Blooms und Stephens ineinander verschlungene Wanderwege übersichtlich nachgezeichnet sind. Und der Student, der nicht die Fassade von Doktor Jekylls Haus zu rekonstruieren vermag, wird niemals in den vollen Genuss von Stevensons Erzählung kommen."
    Genaue Faktenuntersuchungen
    Genau solche Untersuchungen hat Nabokov tatsächlich angestellt. Er zeichnete das Wegenetz der Helden von Joyce auf, den handlungstechnisch aufschlussreichen Grundriss von Dr. Jekylls Haus und auch den der Wohnung, wo Kafkas Gregor Samsa unter den widerwilligen Blicken seiner Familie als Käfer dahinvegetiert. Das vermag durchaus zu überraschen bei einem Schriftsteller, der sich ansonsten bei jeder Gelegenheit darauf versteifte, dass Romane nichts anderes als Märchen und reine Erfindung seien. Verwandelte sich da der Anwalt reiner dichterischer Fantasie etwa plötzlich in einen pedantischen Faktenhuber?
    Einerseits ja. Denn wo eine realistische Logik angelegt war, da ging er ihr in seinen Interpretationen Schritt für Schritt nach und überprüfte sie auf ihre Stimmigkeit.
    Andererseits hieß das aber noch lange nicht, dass er die Übereinstimmung zwischen der erzählten Wirklichkeit und der realen Welt eingefordert hätte. Zwischen der Wirklichkeit des Romans und der Wirklichkeit der realen Welt stand für ihn alles andere als ein Gleichheitszeichen. Viel eher setzte er die beiden Sphären in ein korrespondierendes Verhältnis zueinander.
    Allerdings war Nabokov mit seiner Sozialisation in quasi-aristokratischen Verhältnissen außerordentlich wählerisch darin, mit welchen Tatbeständen, Ideen und Geistern aus der Außenwelt er zu korrespondieren beliebte. Literatur sozialkritisch zu deuten, lehnte er, wie gesagt, ohne großen argumentativen Aufwand rundweg ab. Was sich in den Romanen von Jane Austen und Charles Dickens oder in Flauberts "Madame Bovary" an sozialen Verhältnissen spiegelt, sollte für die Betrachtung dieser Werke partout keine Rolle spielen.
    "Mit den soziologischen oder politischen Auswirkungen von Literatur müssen sich vor allem jene befassen, die aufgrund ihres Temperaments oder ihrer Erziehung gegen die ästhetische Lebendigkeit authentischer Literatur unempfindlich sind."
    Nabokov kämpfte gegen die Geringschätzung der Kunst und die Überbewertung des Thematischen. Damit hatte er völlig recht. Umso mehr als er vor sowjetischen Revolutionären geflüchtet war, die alle Kunst, wenn sie sich bei der Behandlung ihrer Themen nicht der richtigen Parteinahme widmete, als formalistisch denunzierten.
    Sture Abneigung gegen wirklichkeitsbezogene Lesearten
    Dennoch produzierte Nabokovs sture Abneigung gegen wirklichkeitsbezogene Lesarten auch manche blinde Flecken. Gewiss: Flauberts "Madame Bovary" wird nicht allein durch die Darstellung der ländlichen Bourgeoisie zur hohen literarischen Kunst. Aber dennoch ist die Berücksichtigung dieses Aspekts eine Bereicherung für die Lektüre des Romans. Selbstverständlich ist Dickens' "Bleakhaus" nicht primär deshalb ein großer Roman, weil er soziale Missstände wie die Possen der Justiz und das Kinderelend beschreibt. Trotzdem wird der Roman nicht dadurch interessanter, dass man die Bedeutung solcher zeithistorischen Bezüge demonstrativ leugnet.
    Sogar Nabokovs völlig legitimer Widerstand gegen die geistigen Machtansprüche der Psychoanalyse konnte ins Unproduktive umschlagen, wenn er vor lauter Widerwillen gegen Sigmund Freud, den er gerne als "Wiener Medizinmann" apostrophierte, jede Deutung psychischer Tatbestände als Humbug abtat. Im Falle der Identitätsspaltung der Stevenson-Figuren "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" wird dadurch mancher Erkenntnisgewinn schlichtweg verschenkt.
    Doch abgesehen davon enthalten Nabokovs "detektivische Untersuchungen des Rätsels literarischer Strukturen", wie es im Motto des Bandes heißt, sehr viel Erhellendes über die von ihm über alles geschätzte Feinmechanik des Stils. Hochform erreichte der literarische Erzieher bei Flauberts "Madame Bovary", Marcel Prousts "In Swanns Welt" und beim "Ulysses" von Joyce. Diese große, manchmal geradezu begeisterte Anerkennung für Joyce erscheint zunächst ein wenig überraschend, da Nabokov gegen konkurrierende Größen gerne ein bissiges Wort einlegte. Doch schließlich bricht sich ein gewisser Vorbehalt dann doch seine Bahn, wenn auch weniger gegen Joyce als gegen dessen Verehrer.
    "Manche Leser lassen sich von der Bewusstseinsstromtechnik unnötig beeindrucken. So ist diese Technik nicht realistischer oder wissenschaftlicher als irgend eine andere. Diese Joyce'schen Seiten haben einen enormen Einfluss gehabt. Aus dieser typografischen Brühe ist so mancher unbedeutende Dichter hervorgegangen."
    Solche Formulierungen lassen ahnen, warum Nabokov, obwohl er mit seinen Ansichten weder den Zeitgeist noch die akademischen Moden bediente, dennoch sein studentisches Publikum zu faszinieren vermochte. John Updike berichtet im Vorwort von seiner Frau, sie sei überzeugt gewesen, bei Nabokov zu lernen, wie man liest. Und aus den Erinnerungen eines anderen Studenten zitiert er folgende Schilderungen:
    "Haltet mir die Einzelheiten in Ehren, pflegte Nabokov mit seinem rollenden R und einer Stimme zu sagen, die so rau war wie eine kosende Katzenzunge. Er bestand auf Verbesserungen in jeder Übersetzung, kritzelte eigensinnige Schaubilder an die Tafel und forderte die Studenten mit gespieltem Ernst auf, 'dass Sie das exakt so übernehmen, wie ich es zeichne.'"
    Gut also, dass sie greifbar sind, diese "Vorlesungen über westeuropäische Literatur". Sie gehören zwar einerseits nicht zu den wichtigsten Bänden der Werkausgabe, aber andererseits demonstrieren und dokumentieren sie Nabokovs Literaturverständnis ein weiteres Mal sehr anschaulich, noch dazu in direkter und oft überaus fesselnder Auseinandersetzung mit namhaften Schlüsselwerken der Weltliteratur.
    Buchinfos:
    Vladimir Nabokov: Vorlesungen über westeuropäische Literatur. Herausgegeben von Fredson Bowers und Dieter E. Zimmer. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf und Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke Band XVIII. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2014. 784 Seiten, Preis: 38,00 Euro.