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Nach Abu Ghraib

Nach dem Erfolg seines Debütromans "Bullshit Nights" legt Nick Flynn sein zweites Buch vor: "Das Ticken ist die Bombe" - kein Sachbuch, kein Roman, sondern eine teils essayistische, teils poetische Textcollage; vor allem aber - angesichts der Folterbilder von Abu Ghraib - ein Plädoyer für die Menschlichkeit.

Von Sabine Peters | 21.01.2010
    Der amerikanische Autor Nick Flynn, Jahrgang 1960, hält das erste Ultraschallbild seiner ungeborenen Tochter in den Händen, ein Foto, das große Emotionen in ihm weckt. An diesem Tag sieht er noch andere Bilder, die überall in der Welt Entsetzen auslösen: Eine Soldatin führt einen nackten Gefangenen an der Leine. Ein lächelnder Soldat steht mit verschränkten Armen hinter einer Pyramide aus kauernden nackten Männern, deren Gesichter von Kapuzen bedeckt sind. Nick Flynn sieht diese Folterbilder aus Abu Ghraib. Und dann folgt eine Beschwörung.

    Er möchte seiner noch ungeborenen Tochter eines Tages eine Geschichte über eine, wie es heißt, "dunkle Zeit" erzählen können; sie beginnt mit dem folgenden Satz: "Wir hatten uns verirrt, aber nach einer Weile haben wir unseren Weg wiedergefunden." Mit dieser Beschwörung setzt das neue Buch Nick Flynns ein; sein Titel: "Das Ticken ist die Bombe."

    Nick Flynn wurde auch hierzulande schon für sein erstes Buch "Bullshit Nights" hoch gelobt: ein Debüt mit autobiografischen Zügen, eine Vatersuche- und Vaterflucht. Flynns Familienverhältnisse waren katastrophal: Der Vater verließ die Familie, als sein Sohn noch sehr klein war. Beide Eltern waren Alkoholiker, die Mutter brachte sich später um. Der erwachsene Nick Flynn, selbst phasenweise ein drogenabhängiger Herumtreiber, jobbte schließlich einige Zeit in einem Obdachlosenheim, und dort traf er seinen völlig heruntergekommenen Vater. Ein unsentimentales Bild vom Leben "ganz unten" in der Gesellschaft; und eine überzeugende Übung darin, Privates und Politisches zusammenzubringen.
    "Das Ticken ist die Bombe" knüpft inhaltlich an Flynns Debüt an: Wieder geht es um die Neigung zu Zerstörung und Selbstzerstörung. Der Autor selbst versucht, ein solides Leben zu führen: Er unterrichtet und schreibt, er hat sich für eine von zwei Geliebten entschieden und will ein normales Familienleben beginnen; auch hat er sich vom Alkohol gelöst. Der destruktive und oft verwirrte Vater hält ihn allerdings weiter in Atem. Zu den Wahnvorstellungen des alten Mannes gehört es, dass er, der wegen Scheckfälschung inhaftiert war, sich für einen zweiten Solschenyzin hält. Flynn findet Destruktion und Deformation, wohin er auch blickt. Er informiert sich über die CIA, die seit Jahrzehnten an der Entwicklung von Foltermethoden beteiligt ist; er stellt fest, dass im ganzen Land eine Brutalisierung um sich greife - sie finde nicht nur bei den sogenannten einfachen Leuten statt, sondern äußere sich eben auch in den intellektuellen Kreisen. Dass man überhaupt debattieren kann, ob die Folter von angeblichen oder tatsächlichen Terroristen angemessen wäre, entsetzt ihn. Plötzlich ist nichts mehr "unschuldig": Nicht die Musik von Britney Spears, die als Tortur eingesetzt werden kann - dafür, so heißt es, forderte die American Society of Composers, Authors and Publishers vom US-Militär Tantiemen.

    Unschuldig ist auch nicht mehr das Betrachten von Fresken aus dem 15. Jahrhundert: Die präzise Darstellung der Folter lässt sich wie eine Handlungsanweisung lesen. Flynn hört verharmlosende, beschönigende Sätze eines Nachrichtenkommentators, der meint, unter den amerikanischen Soldaten seien nun einmal einige schwarze Schafe, die sich amüsieren wollten. Flynn wehrt sich gegen diese Trennung, er sagt: "Sie", diese schwarzen Schafe, das sind "wir". Der Autor, der sich von seiner eigenen Drogenabhängigkeit mithilfe einer Therapie befreite, betreibt in seinem Buch eine Art von wilder Psychotherapie der amerikanischen Gesellschaft. Er durchleuchtet Allmachtsfantasien, die an die Stelle von Ohnmachtserfahrungen treten und katastrophale Folgen haben. Es geht ihm um Wiederholungszwänge, auch um den Zwang zur Abspaltung: "Die Anderen" werden für schuldig erklärt, wenn "wir" in die Irre gehen. Dagegen fordert Flynn die Anerkennung, dass "wir" nicht vollkommen, sondern fehlbar sind, dass wir, wie es heißt, "aus Finsternis gemacht sind".

    "Das Ticken ist die Bombe" - das ist kein Sachbuch und kein Roman, sondern eine teils essayistisch, teils poetisch angelegte Textcollage. Flynn mischt Zitate aus diversen Medien, Alltagserfahrungen und Songtexte mit eigenen assoziativen Prosagedichten; hinzu kommen Dokumente von Gesprächen, die verschiedene Menschenrechtler, Anwälte und Künstler mit den ehemaligen Häftlingen führten. All das steht im wörtlichen Sinn gleichgültig nebeneinander. Manches wirkt an den Haaren herbeigezogen, beliebig, unmotiviert: Martin Luther King, Nebukadnezar und Saddam Hussein stehen nahezu unverbunden; und der Roman einer fiktiven sadomasochistischen Liebesbeziehung, "die Geschichte der O" lässt sich nicht mit dem Leben tatsächlicher Folteropfer vermengen. Wenig überzeugend liest sich auch Flynns Versuch, die Schmerzen der Opfer nachzuvollziehen - bei der entsprechenden Passage wünschte man, der Autor hätte Distanz gewahrt.

    Man kann an diesem Buch Einiges infrage stellen oder zumindest diskutieren: Die
    gedankliche Zusammenführung von misshandelten, versehrten Gefangenen mit dem werdenden, schutzlosen Leben der kleinen Tochter, der Hinweis also auf den unbedingten Wert des Lebens "stimmt" auf so banale Weise, dass damit auch wieder nichts gesagt ist. Denn dieser Hinweis unterschlägt auf idealistische Weise, dass menschliches Leben eben doch sehr unterschiedlich gemessen wird.

    Bei allem, was sich im Einzelnen einwenden lässt und was bei einem sorgfältigen Lektorat hätte korrigiert werden können: Man merkt dem Text an, dass er geschrieben werden musste, und es gehört unweigerlich zu seiner Qualität, dass er eben gerade nichts Ganzes, Stimmiges, Fertiges wird. Einmal zitiert Flynn ein muslimisches Gebet, in dem die Gläubigen bitten: "Herr, vergrößere meine Verwirrung". Und er hofft darauf, damit den Käfig des Dualismus aufbrechen zu können. Flynns eigene Verwirrung ist spürbar groß - und genau das macht sein Buch zu einer diskussionswerten Lektüre.

    Nick Flynn: Das Ticken ist die Bombe
    Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel
    Arche-Verlag, 288 Seiten, 22 Euro