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Nach dem Anschlag in Suruc
IS bleibt großes außenpolitisches Problem der Türkei

Der Anschlag in Suruc hat in der Türkei große Bestürzung ausgelöst. Dabei seien Pläne für Anschläge mit sogenannten Walking Bombs bekannt gewesen, sagte der türkische Politologe Hüseyin Bagci im DLF. In der Türkei gebe es viele IS-Sympathisanten. Die Regierung in Ankara aber habe bisher eine Politik der Beschwichtigung betrieben.

Hüseyin Bagci im Gespräch mit Mario Dobovisek | 22.07.2015
    Proteste gegen die Regierung nach Bombenanschlag von Suruc
    Nach dem Anschlag in Suruc kam es in Istanbul zu Protesten gegen die türkische Regierung. (dpa/EPA/Sedat Suna)
    Offiziell habe die Regierung erklärt, den IS zu bekämpfen. Die letzten zwei Jahren habe man aber eine Politik der Beschwichtigung gepflegt, kritisierte der Politologe Hüseyin Bagci von der Middle East Technical University Ankara im DLF. Dadurch habe sich der IS in der Türkei verstärken können, so Bagci.
    Bei dem Anschlag in Suruc starben 32 Menschen, die meisten von ihnen waren Jugendliche. In der Bevölkerung ist die Bestürzung groß. "Erdogan Du Mörder" skandierten Demonstranten aus Wut bei Protesten in Istanbul. Es sei bekannt gewesen, dass es sogenannte Walking Bombs in der Türkei gebe, sagte Bagci. Das Innenministerium habe erst vor wenigen Tagen bekannt gegeben, dass mindestens acht IS-Terroristen in die Türkei gekommen seien und Bombenanschläge durchführen würden. "Jeder hat erwartet, dass so etwas passiert. Die Frage war nur, wann", sagte Bagci.
    "Natürliche Allianz zwischen Türken und Kurden"
    Angesichts der Anschläge von Suruc erwartet der Politologe, dass die Türkei auch in Zukunft Schauplatz terroristischer Aktivitäten sein werde. Der Kampf der IS gegen die Kurden, die als Kollaborateure der Amerikaner gesehen würden, sei "das größte außenpolitische Problem der Türkei", so Bagci. Dies könne in Zukunft nur durch die Zusammenarbeit mit internationalen Kräften gelöst werden.

    Das Interview in voller Länge:
    Mario Dobovisek: 32 Menschen starben bei dem Selbstmordanschlag im türkischen Suruc, die meisten davon Studenten. Der Angriff hat die Grenzstadt in der Nähe von Kobane verändert, viele der Toten wollten dabei helfen, die syrische Nachbarstadt nach der Besetzung durch den Islamischen Staat wieder aufzubauen. Mit größter Wahrscheinlichkeit, so sagt es Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, steckten die Kämpfer des IS hinter dem Anschlag auf türkischem Boden.
    Darüber möchte ich sprechen mit Hüseyin Bagci, Politikwissenschaftler an der Middle East Technical University in Ankara. Guten Morgen, Herr Bagci!
    Hüseyin Bagci: Guten Morgen!
    "Türkei wird in Zukunft weiterhin Schauplatz terroristischer Aktivitäten sein"
    Dobovisek: Trägt der Islamische Staat den Krieg jetzt hinein, mitten in die Türkei?
    Bagci: In der Tat ist es so. Man hat das erwartet, das Innenministerium hatte vor ein paar Tagen bereits erklärt, dass mindestens acht IS-Terroristen in die Türkei gekommen sind, und dass sie Bombenanschläge verursachen würden, und das ist passiert. Ich erinnere mich, jeder hatte erwartet, dass so was passiert, die Frage war, wann. Und es hat jetzt gerade begonnen, und ich denke, in der Zukunft wird die Türkei weiterhin der Schauplatz für solche terroristischen Aktivitäten sein.
    Dobovisek: Die Regierung in Ankara gerät damit unter Druck. "Erdogan, du Mörder", riefen viele Kurden in Suruc und Regierungsgegner bei Demonstrationen in Ankara und auch vergangene Nacht in Istanbul. Hat die Regierung genug gegen die Milizen des Islamischen Staats getan?
    Bagci: Die Regierung hat erklärt, ISIS zu bekämpfen, und das ist eine offizielle Regierungspolitik seit etwa einem Jahr, mit der NATO und den westlichen Staaten. Aber die Tatsache bleibt natürlich, dass in den letzten zwei Jahren die Türkei eine Politik der Beschwichtigung verfolgt hat, weil die Türkei 49 Diplomaten etwa 103 Tage in den Händen des IS hatte. Und es war für die Türkei natürlich eine sehr schwierige Situation. Aber nachdem man die Diplomaten schon zurückbekommen hatte, hat man die Richtung der Politik gegen den IS gerichtet und die offizielle Politik, auch für heute, bleibt natürlich der Kampf gegen IS.
    Aber die Tatsache bleibt, IS ist ein Nachbar der Türkei und ist in der Türkei auch sehr gut organisiert. Und höchstwahrscheinlich wird der Kampf der Regierung weitergehen, aber auch der IS wird in der Türkei noch Schlimmeres vielleicht tun. Das ist auch die Erwartung.
    "Eigentlicher Kampf zwischen kurdischem und arabischem Nationalismus"
    Dobovisek: Darauf können wir gleich noch mal zurückkommen, ein sehr interessanter Punkt. Bleiben wir aber zunächst bei der Zurückhaltung der Türkei in den vergangenen Jahren. Hat die Türkei damit den Islamischen Staat erst recht groß gemacht?
    Bagci: Ich würde nicht sagen, dass die Türkei das allein gemacht hat. Das ist eine regionale Erscheinung. Alle Länder, Syrien, Türkei, Iran, sind gleichzeitig, und der Irak, verantwortlich dafür. Ich denke, das ist eigentlich ein Kampf zwischen dem kurdischen Nationalismus und dem arabischen Nationalismus, wo die Kurden säkularer sind und die arabischen Nationalisten unter dem IS die sunnitischen und religiösen.
    Und der IS ist auch dementsprechend organisiert, gegen Amerika zu kämpfen, und die Kurden werden als Mitarbeiter oder Kollaborateure der Amerikaner gesehen. Und ich denke, dieser Kampf wird natürlich auch die Türkei sehr direkt betreffen und wird auch in der Zukunft vielleicht das größte außenpolitische Problem der Türkei sein, solange man in Syrien und im Irak die Kontrolle nicht hat, wird die Türkei davon betroffen sein.
    Die türkischen Grenzen waren in den letzten Jahren sehr durchlässig, jeder konnte rein und raus. Und die Beschuldigungen, dass die türkische Regierung eine gewisse falsche Politik betrieben hat, werden im Allgemeinen akzeptiert, und die Regierung hat es auch zugegeben, dass man 910 Kilometer Grenze einfach nicht kontrollieren konnte. Die Tatsache bleibt, dass die Türkei eines der Länder ist, in dem der IS sich verstecken konnte.
    "Politik in Syrien muss Gruppierungen zusammenbringen, die den IS bekämpfen"
    Dobovisek: Was bedeutet das konkret für die nächsten Monate und Jahre in der türkischen Außenpolitik? Reicht das da, die Grenze zu befestigen, wenn das überhaupt möglich ist?
    Bagci: Das wäre eine Maßnahme. Die andere Maßnahme wäre natürlich, alle Sympathisanten und die Aktivisten des IS in der Türkei zu verfolgen und dementsprechende sicherheitspolitische Maßnahmen zu ergreifen, aber auch natürlich in Syrien auf jeden Fall eine Politik zu betreiben, die die Gruppierungen, die gegen den IS kämpfen, automatisch zusammenbringt. Deswegen wird die Türkei, wie der Ministerpräsident gesagt hatte, verstärkt eine Politik betreiben, IS zu bekämpfen. Aber es wird nicht einfach sein, das sollte man vorab sagen.
    Dobovisek: Sie haben vorhin gesagt, Herr Bagci, Sie erwarten Schlimmeres. Was schwebt Ihnen da vor, was haben Sie im Kopf?
    Bagci: Weil wir in der Türkei sehr viele Sympathisanten haben, hat die Regierung das erklärt, das Innenministerium, dass da gefährliche Walking Bombs in der Türkei laufen ...
    Dobovisek: Also laufende Bomben.
    Bagci: ... richtig, die in Syrien ausgebildet sind, dass sie in der Türkei größere Bombenanschläge verursachen würden. Deswegen, die Erwartung, dass so was passieren wird, ist jetzt verwirklicht, das hat erst mal begonnen. Und die Frage ist jetzt, ob man die anderen Bombenanschläge verhindern könnte. Und ich denke, das ist die Aufgabe jetzt der Regierung, das zu bekämpfen.
    Ich denke, die Regierung hat genug Informationen, solche mögliche Bombenanschläge zu verhindern, aber da muss man natürlich zusammenarbeiten mit allen Beteiligten, da nehme ich auch die NATO und westliche Staaten mit. Diese ausländischen Kämpfer, über die man ja sehr viel gesprochen hat, sind schon da, und die sind über die Türkei gegangen. Aber die Türkei hat in den letzten acht Monaten insbesondere eine sehr verstärkte Zusammenarbeit mit allen internationalen Kräften ...
    "Kurden können die IS alleine nicht aus dem Weg räumen"
    Dobovisek: Eine andere Rolle, eine wichtige Rolle spielen ja auch die Kurden im konkreten militärischen Kampf gegen den Islamischen Staat. Anfang Juni erst zog die prokurdische HDP in das Parlament in Ankara ein und sorgte damit für eine politische Sensation. Die Kurden lassen sich also nicht mehr klein halten von Ankara. Was bedeutet das für den Friedensprozess mit den Kurden in der Türkei.
    Bagci: Wir müssen zwei Dinge voneinander trennen: Einmal die Kurden, die in Syrien sind, und die Kurden in der Türkei. Und die Frage ist, wie diese Kurden auf beiden Seiten sich zusammentun und gegen den IS kämpfen. Die können den IS alleine nicht einfach aus dem Weg räumen, ohne die türkische und amerikanische Hilfe zu haben. Deswegen ist es eine natürliche Allianz zwischen den Türken und den Kurden, ob sie in der Türkei sind oder in Syrien sind.
    Deswegen ist jetzt die Frage, wie verstärkt die Türkei die Zusammenarbeit mit diesen kurdischen Gruppierungen, und ob die kurdischen Gruppierungen wie zum Beispiel die PKK nicht als Feind betrachtet. Je mehr die PKK in der Türkei Aktivitäten macht, desto mehr werden in der Türkei diese Vorurteile gegenüber den Kurden weiter laufen.
    "Türkei ist vielleicht der einzige Partner, um den Kurden zu helfen"
    Deswegen muss es eine Veränderung geben in der Betrachtung der Kurden, was die Türkei angeht, dass die Türkei jetzt vielleicht der einzige Partner ist, den Kurden zu helfen, wie es in Kobane voriges Jahr und auch in den letzten acht Monaten der Fall war.
    Dobovisek: Sie hören vielleicht schon die Musik im Hintergrund, wir kommen gleich zu den Nachrichten. Deshalb danke ich Ihnen für die Eindrücke. Der Politikwissenschaftler Hüseyin Bagci über den Anschlag von Suruc.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.