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Nach dem Anschlag von Berlin
"Wir haben ein erhebliches Restrisiko"

Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) sieht politischen Handlungsbedarf, da nicht alle 500 sogenannten Gefährder in Deutschland rund um die Uhr überwacht werden könnten. Der Vizevorsitzende des BDK, Sebastian Fiedler, forderte im DLF eine Aufstockung des Personals um eine "hohe fünfstellige Zahl". Auch Fußfesseln könnten eine Maßnahme sein. Forderungen der CSU nach der Festsetzung von Gefährdern wies er als nicht rechtsstaatlich zurück.

Sebastian Fiedler im Gespräch mit Doris Simon | 22.12.2016
    Sebastian Fiedler, stellvertretender Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, im DLF-Studio.
    Sebastian Fiedler, stellvertretender Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, im DLF-Studio. (Deutschlandradio - Jörg Stroisch)
    Zurzeit wird öffentlich nach Anis Amri gefahndet, der im Verdacht steht, den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin begangen zu haben. Diese Fahndungsmethode ist laut Fiedler keineswegs ungewöhnlich. Dabei würden die "europäischen Partner eingebunden".
    Angesichts der Zahl der sogenannten Gefährder, die in Deutschland bei rund 500 liegt, sagte er: "Wir können nicht alle von ihnen 24 Stunden unter Dauerbeobachtung stellen. Wir haben ein erhebliches Restrisiko." Seit zwei Jahren bereits betone man, dass die Polizei an "natürliche Ressourcengrenzen" stoße. Fiedler forderte daher eine Aufstockung des Polizeipersonals um eine "hohe fünfstellige Zahl". Zudem seien kriminalpolitische Debatten notwendig, unter anderem über den Einsatz von Fußfesseln zur Überwachung.
    CSU-Forderungen nicht im Rahmen des Rechtsstaats
    Zur Forderung der CSU, Gefährder festzusetzen, betonte Fiedler, Deutschland sei ein Rechtsstaat: "Und bei aller Liebe und allen berechtigten Forderungen, kriminalistisch unser Handwerk zu verbessern, möchte ich so etwas immer auf dem Boden unserer Verfassung diskutiert wissen. Da ist mir kein detaillierter Vorschlag der CSU bekannt, der das ihm Rahmen unserer Verfassung ermöglichen würde."
    Fiedler forderte zudem außenpolitisch höhere Anstrengungen, um Straftäter, die keine Aussicht auf Asyl haben, in ihre Herkunftsländer abzuschieben.

    Das Interview in voller Länge:
    Doris Simon: Es ist ungewöhnlich, dass deutsche Behörden jemand öffentlich zur Fahndung ausschreiben. Aber seit gestern Abend sind 100.000 Euro Belohnung ausgesetzt für Hinweise, die zur Festnahme führen von Anis Amri, dem 24jährigen Tunesier, dem Mann, der verdächtigt wird, den Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz verübt zu haben. Am Telefon ist jetzt Sebastian Fiedler, der stellvertretende Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter. Guten Morgen.
    Sebastian Fiedler: Guten Morgen!
    Simon: Herr Fiedler, Sie suchen einen Mann unter 80 Millionen. Wie?
    Fiedler: Zunächst einmal mit einer Öffentlichkeitsfahndung, die keineswegs ungewöhnlich ist durch deutsche Behörden. Ich habe das häufiger jetzt in den letzten Stunden und gestern so hören müssen. Öffentlichkeitsfahndung ist ein ganz klassisches kriminalistisches Fahndungsinstrument. Das machen wir sozusagen tagtäglich und das ist im Kern an die rechtliche Vorgabe gebunden, dass andere Fahndungsmethoden nicht so zum Erfolg führen, wie wir uns das versprechen würden.
    Simon: Trotzdem. Wie findet man einen Mann unter 80 Millionen?
    Fiedler: Ja, indem wir kriminalistisch nach ihm fahnden. Wir haben die europäischen Partner eingebunden, indem er ebenfalls in das europäische Fahndungssystem eingepflegt worden ist, und Sie haben vielleicht Verständnis dafür, dass ich jetzt ein bisschen ausweichend antworte, weil ich natürlich nicht unser kriminalistisches Handwerkszeug im Bereich der Fahndung jetzt über die Medien rausblasen darf, weil das unsere Arbeit natürlich nicht erleichtert, sondern erschwert. Aber jedenfalls sind eine ganze Reihe von Kriminalistinnen und Kriminalisten jetzt damit betraut, ihn zu suchen.
    Simon: Schauen wir auf das, was bekannt ist. Wenn der Tatverdächtige, wie ermittelt Teil, eines großen Islamisten-Netzwerkes war, brandgefährlich, einer der sogenannten 500 Gefährder, warum konnte der sich frei bewegen?
    Fiedler: Ich habe keine detaillierte Sachverhaltskenntnis dazu und ich weiß auch nicht, ob das wirklich so stimmt, dass er sich so frei bewegen konnte. Das will ich gar nicht mal so bestätigen. Jedenfalls scheint es ja so zu sein, und da beziehe ich mich jetzt auf die Presseberichterstattung, dass es offensichtlich ein Ermittlungsverfahren gegeben hat, dass der Generalbundesanwalt beziehungsweise der Generalstaatsanwalt in Berlin hier tätig gewesen ist und man versucht hat, entsprechend einen Straftatverdacht zu verdichten. Dann leben wir hier in einem Rechtsstaat und dann könnte es möglicherweise so gewesen sein, dass sich der Verdacht so nicht hat erhärten lassen können. Und man muss ganz grundsätzlich darauf hinweisen: Sie haben die Zahl der Gefährder genannt. Dass wir die nicht alle 24 Stunden permanent unter Dauerbeobachtung stellen können, das sind Texte, die haben wir seit etwa zwei Jahren schon gesagt, haben darauf hingewiesen, dass wir hier ein erhebliches Restrisiko haben an vielen Stellen, weil wir an natürliche Ressourcengrenzen stoßen bei dieser Überwachung. Das sind aber ganz allgemeine Dinge, das merken Sie, und die kann ich auch Ihnen nur so sagen, weil ich keine detaillierten Kenntnisse von dem Ermittlungsverfahren oder von dem Sachverhalt habe und im Übrigen auch dort die Informationshoheit derzeit beim Generalbundesanwalt liegt.
    "Elektronische Fußfessel würde bei bestimmten Tätern helfen"
    Simon: Würde in einem solchen Fall denn eine elektronische Fußfessel helfen?
    Fiedler: Das ist ein Instrument, was wir schon seit längerer Zeit fordern. Das ist vollkommen richtig. Das würde natürlich bei bestimmten Tätern helfen. Das ist eine richtige und berechtigte Debatte. Die haben wir schon im Bereich der gefährlichen Sexualtäter versucht zu führen, diese Debatte, und die ist hier allemal angezeigt. Das sind aber so Dinge, die ich ganz gerne losgelöst von diesem Einzelfall diskutieren würde, weil wir hier natürlich noch zu wenig Kenntnis darüber haben, woran es jetzt an welchen Stellen gelegen hat, dass wir diese Person jetzt so nicht schon kurzfristig haben festnehmen können. Aber natürlich werden wir in der Folge, das kann man jetzt schon sagen, eine ganze Reihe von kriminalpolitischen Debatten führen müssen, wie wir uns hier besser aufstellen können. Dazu gehört im Übrigen auch die Frage der europäischen Sicherheitsarchitektur und nicht nur die nationale Keule.
    Simon: Bleiben wir noch mal bei uns. Die CSU fordert, solche Gefährder müssten festgesetzt werden. Richtig?
    Fiedler: Ich habe schon darauf hingewiesen. Wir sind hier ein Rechtsstaat und bei aller Liebe und bei allen berechtigten Forderungen, kriminalistisch hier unser Handwerk zu erleichtern und zu verbessern, möchte ich so etwas immer natürlich nur auf dem Boden unserer Verfassung diskutiert wissen, und da ist mir noch kein detaillierter Vorschlag der CSU bekannt, der das im Rahmen unserer Verfassung hier ermöglichen würde. Deswegen habe ich da ein bisschen mehr Fragezeichen. Bestimmte politische Parteien sind ja immer sehr schnell mit sehr einfachen Forderungen. Wichtig ist, dass wir darüber diskutieren, was der Kriminalpolizei tatsächlich wirklich effektiv hilft, und das sind, glaube ich, andere Diskussionen. Die Fußfessel ist eine von denen, die wirklich sinnvoll ist.
    "Außenpolitisch die Daumenschrauben erheblich anlegen"
    Simon: Der Tatverdächtige, das weiß man inzwischen, hat ja in Abschiebehaft gesessen. Weil aber seine Identität nicht ganz geklärt werden konnte, kam er wieder frei, obwohl er ein Gefährder war. Aus Ihrer Erfahrung als Beamter, Polizei-, Sicherheitsbeamter, ist denn überhaupt sicher, dass die Abschiebebehörden das wussten? Wird das ausgetauscht?
    Fiedler: Grundsätzlich ja. Im Einzelfall gehört das leider zu den Dingen, die ich Ihnen nicht beantworten kann. Ich will aber auf einen anderen Punkt hinweisen, der eng damit zusammenhängt. Die Tatsache, dass gestern von den tunesischen Behörden Pass-Ersatzpapiere nach Nordrhein-Westfalen geschickt werden, die macht deutlich, dass wir hier ganz andere Probleme haben, und die macht deutlich, dass wir unsere Sicherheit hier nicht mehr national allein organisieren können, sondern dass wir hier eine außenpolitische Komponente haben, die für unsere Sicherheit hier wichtig ist. Die Tatsache, dass sich Tunesien dann zeitweilig weigert, jemanden als Tunesier anzuerkennen, dass das ewig dauert, bis Pass-Ersatzpapiere ausgestellt werden, oder ich gehe einen Schritt weiter, dass Marokko nur vier Abschiebungen pro Woche akzeptiert, das ist natürlich nicht weiter zu tolerieren und hier müssen in der Tat außenpolitisch die Daumenschrauben erheblich angelegt werden und angedreht werden, damit wir hier tatsächlich Straftäter, die überhaupt keine Aussicht auf Asyl haben, in der Tat wieder in ihre Herkunftsländer zurückschieben können. Das ist ein wichtiger Mechanismus.
    Simon: Haben Sie denn den Eindruck, dass da bis jetzt zu wenig passiert ist? Es sind ja dort wirklich Anstrengungen in diesem Jahr unternommen worden.
    Fiedler: Das weiß ich, ehrlich gesagt, nicht. Ich weiß von ein paar Reisen, die dorthin unternommen worden sind. Ich beurteile das vom Ergebnis her und vom Ergebnis her würde mich mal interessieren, ob wir in diese Länder immer noch Entwicklungshilfe überweisen, und vom Ergebnis her stelle ich fest, dass es uns bisher nicht möglich ist, effektiv und schnell Straftäter in diese Länder wieder zurückzuführen, und vom Ergebnis her befriedigt das einen Kriminalbeamten hier nicht in Deutschland und das befriedigt auch die Bevölkerung nicht. Deswegen erwarte ich, dass wir außenpolitisch hier erheblich größere Anstrengungen unternehmen.
    Simon: Schauen wir noch mal auf das, was bei uns geleistet werden kann. Der Tatverdächtige ist im Dezember aus den Augen verloren worden von den Sicherheitskräften - kann natürlich immer wieder passieren. Aber ist das was, was wir hinnehmen müssen?
    Fiedler: Ich weiß das nicht, ob das so stimmt, aber jedenfalls ist es so, dass wir natürlich ein erhebliches Restrisiko haben. Das ist vollkommen klar. Bei einer hohen dreistelligen Anzahl von Gefährdern, also von Personen, die wir für wirklich …
    Simon: Ungefähr 500?
    Fiedler: Ja genau, die wir für wirklich relevant halten und bei denen die Gefahr bestehen könnte, dass sie Gewalttaten begehen. Da ist es natürlich klar, dass wir die nicht 24 Stunden rund um die Uhr überwachen können. Das ist vollkommen klar und das ist einer der Aspekte, die problematisch sind und die wir intensiv in den Blick nehmen werden müssen. Deswegen müssen wir über so Dinge wie Fußfesseln dringend diskutieren und müssen uns dem schnell auch annähern, weil das Problem natürlich nicht auf die lange Bank geschoben werden kann. Wir müssen in völlig neuen Dimensionen über Personalverstärkung reden. Das hört sich jetzt nach einer klassischen gewerkschaftlichen Forderung an. Aber Sie werden schnell erkennen, wenn Sie ins Detail gucken, wie groß unsere Probleme hier sind, dass wir kurzfristig unsere eigenen Reihen nicht stärken können, und da rede ich deutschlandweit von einer hohen fünfstelligen zusätzlichen Zahl von Polizeibeamten. Jetzt möchte ich nicht in den Verdacht geraten, die Situation auszunutzen, um viel Personal zu fordern, aber die Dimensionen sind wirklich größer, als wir das in den letzten Jahren diskutiert haben.
    Simon: Sebastian Fiedler war das, der stellvertretende Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter. Herr Fiedler, danke für das Gespräch.
    Fiedler: Sehr gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.