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Nach dem Brexit
Großbritanniens Zugang zum EU-Binnenmarkt

Großbritannien will auch nach einem vollzogenen Brexit den Zugang zum europäischen Binnenmarkt nicht verlieren. Norwegen oder die Schweiz zeigen mögliche Modelle, wie eine Teilnahme aussehen könnte. Beide Länder zahlen ins EU-Budget ein, dürfen aber keinen Einfluss auf die EU-Gesetzgebung nehmen.

Von Jörg Münchenberg | 01.07.2016
    Finanzzentrum City of London mit 30 St Mary Axe Hochhaus (the Gherkin)
    Wird die City of London auch nach dem Brexit eines der wichtigsten europäischen Finanzzentren bleiben? (Daniel Kalker, dpa picture-alliance)
    Die EU hat sich klar gegenüber der künftigen britischen Regierung positioniert: erst Antrag auf Austritt, dann Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen Union und Großbritannien. So haben es die 27 auf dem zurückliegenden Gipfel beschlossen und dabei auch schon mal die Bedingungen formuliert, unter denen London weiterhin auf einen freien Zugang zum Binnenmarkt hoffen kann.
    Die zentrale Botschaft dabei lautet: keine Rosinenpickerei. Bundeskanzlerin Angela Merkel am Ende des informellen Rates der 27 Mitgliedsländer in dieser Woche:
    "Wir sagen dann, dass das Vereinigte Königreich seine Intentionen, wie es seine Beziehungen zur Europäischen Union gestalten will, natürlich darlegen muss. Und weisen noch mal darauf hin, dass Zugang zum Binnenmarkt nur unter Berücksichtigung der vier Grundfreiheiten gegeben werden kann".
    London lehnt Freizügigkeit für Arbeitnehmer ab
    Und das umfasst eben auch die Freizügigkeit für Arbeitnehmer auf dem Binnenmarkt – doch gerade diese Grundfreiheit lehnt London bekanntlich kategorisch ab. Andererseits hat Großbritannien ein fundamentales Interesse daran, den Zugang zum europäischen Binnenmarkt nicht zu verlieren. Doch die Optionen sind überschaubar.
    Norwegen etwa hat freien Zugang zum Binnenmarkt, kann also seine Waren zollfrei dorthin exportieren. Auch für Dienstleistungsangebote gibt es keine Auflagen. Gleichzeitig profiziert das nordeuropäische Land von der Niederlassungsfreiheit für Unternehmen. Doch die wirtschaftlichen Vorteile haben ihren Preis, sagt Guntram Wolff, Direktor an der Brüsseler Denkfabrik Bruegel:
    "Wenn das Vereinigte Königreich am Ende wie Norwegen wird, dann ändert sich aus der Sicht der Wirtschaft ja eigentlich gar nichts. Sie sind dann weiterhin volles Mitglied im Binnenmarkt. Müssen weiterhin ins EU-Budget einzahlen, sie müssen weiterhin alle Regeln umsetzen.
    Was sich politisch ändert ist die Tatsache, dass sie wesentlich weniger Einfluss auf die EU-Gesetzgebung haben. Insofern wäre es ein äußerst dummer Deal und dieser dumme Deal würde außerdem noch zuhause die Wahlversprechen brechen."
    Streit zwischen Brüssel und Bern wegen Zuwanderung
    Auch die Schweiz genießt den weitgehend ungehinderten Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Dazu haben die Eidgenossen zahlreiche Verträge mit der EU abgeschlossen, die etwa die Freizügigkeit von Personen, den Agrarhandel, den Abbau technischer Hemmnisse, aber auch die Zusammenarbeit etwa im Tourismus, der Sicherheit, bei der Umweltpolitik oder auch die Betrugsbekämpfung umfassen.
    Eine Vereinbarung für Finanzdienstleistungen – ein wichtiges Geschäftsfeld für die Londoner City - fehlt allerdings. Außerdem gibt es inzwischen Streit zwischen Brüssel und Bern, weil die Schweiz nach einer Volksbefragung die Zuwanderung begrenzen will. Auch dieses Modell, das angesichts der Vielzahl der Verträge als äußerst kompliziert gilt, hält Wolff für wenig praktikabel – allerdings noch aus einem anderen Grund:
    "Im Schweizer Modell haben sie fast noch weniger zu sagen. Und die Schweizer müssen den "acquis" übernehmen. Ohne da groß Einfluss drauf zu haben."
    WTO-Modell ist für die britische Finanzbranche keine attraktive Option
    Zumal auch die Schweizer wie die Norweger für den Zugang zum Binnenmarkt bezahlen müssen. Blieben ein klassisches Freihandelsabkommen – was jedoch ebenfalls als aufwendig und zeitraubend gilt – oder aber das WTO-Modell. Hier würde der künftige Handel nach den allgemeinen Regeln der Welthandelsorganisation ablaufen. Der Zugang zum Binnenmarkt bliebe also erheblich beschränkt, gerade für die britische Finanzbranche deshalb keine attraktive Option.
    Manche spekulieren aber auch darauf, dass sich erst einmal überhaupt nichts ändert. Weil die Briten weiter auf Zeit spielen und auch den Scheidungsantrag weiter hinauszögern. Wirtschaftswissenschaftler Wolff hält das aber wiederum für keine gute Idee:
    "Aus wirtschaftlicher Sicht ist diese Hängepartie Gift. Für die Aktivitäten, für die Investitionen, für die Konjunktur. Ich würde sagen, dass der Schock schon jetzt dazu führt – allein der Vertrauensverlust – dass das Vereinigte Königreich Richtung Rezession geht. Und das hat natürlich sofort Auswirkungen auch auf uns. Wir werden auch in Deutschland diese Effekte spüren."
    Und so bleiben weiterhin viele Fragezeichen, wie Großbritannien seine künftigen Wirtschaftsbeziehungen zur EU organisieren wird. Letztlich könnte es eine Wahl zwischen Pest und Cholera werden: mit einem Modell Norwegen das heimische Wahlvolk zu hintergehen oder aber erhebliche Nachteile für die eigene Wirtschaft in Kauf zu nehmen.