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Nach dem Londoner Großbrand
Sparwahn, der Leben kostete

Acht Wochen sind seit dem verheerenden Brand im Londoner Grenfell Tower vergangen. Lautstark protestierten damals wütende Bürger gegen Regierung und Behörden: Das Feuer, das 80 Menschen ihr Leben kostete, hätte verhindert werden können. Bis heute, empören sich die Anwohner, hätten Politiker nichts kapiert.

Von Christine Heuer | 14.08.2017
    Blumen und Beileidsbekundungen nach der Hochhausbrand-Tragödie mit mindestens 80 Toten in London. Das Unglück im Grenfell Tower hätte verhindert werden können. Warnungen über mangelnden Brandschutz waren von Behörden und Vermietergesellschaft ignoriert worden.
    Große Anteilnahme nach der Hochhausbrand-Tragödie mit mindestens 80 Toten in London. Warnungen über mangelnden Brandschutz waren ignoriert worden. (Deutschlandradio / Christine Heuer)
    Das Erste, was man sieht, wenn man aussteigt an der U-Bahn-Station Latimer Road im Westen Londons, ist ein schwarz-verkohlter Block: geborstene Fenster, geschmolzene Fensterrahmen, die leicht herausragen aus diesem schwarzen Monolithen, der wie eine stumme Anklage über dem Viertel thront. Ein Symbol für die größte Katastrophe in London seit Jahrzehnten, und ein Symbol für vieles, was falsch läuft in Großbritannien.
    Grenfell Tower - Sozialwohnungen im Mittelschichtsviertel
    Um kurz vor eins am 14. Juni erwacht das Latimer Road Viertel im Bezirk Kensington und Chelsea. Es gibt hier sehr teure Straßenzüge. Notting Hill, wenige 100 Meter weiter nord-östlich, gehört zum Bezirk. Und es gibt bescheidenere Ecken. In Latimer Road wohnt die Mittelschicht in kleinen Mehrfamilienhäusern, manche mit einem Gärtchen. Mittendrin der aufragende Grenfell Tower mit 129 Sozialwohnungen.
    Mitternacht ist noch nicht lange vorbei, da bricht das Feuer aus, wenig später steht der Turm in Flammen. Feuerwehr- und Polizeisirenen holen die Anwohner aus ihren Betten. Die Krankenwagen sind unterwegs. Die Nachbarn rennen vor ihre Häuser und werden Zeugen eines Infernos:
    "Ich habe so etwas noch nie gesehen: Die Flammen leckten aus den Fenstern. Die oberen Fenster waren ein einziges Lodern. Der Himmel war rot. Man konnte ihre Fernseher immer noch laufen sehen. Niemand da drin konnte das überleben. Niemand."
    Nach dem Inferno vermisst: Rania Ibrahim und ihre Kinder
    Die Bewohner des Grenfell Tower rennen um ihr Leben. Die, die es können, weil sie weit genug unten wohnen, um es durch den einzigen Ausgang ins Freie zu schaffen. Weiter oben warten sie ab. Hilflos. Von Minute zu Minute verzweifelter. Rania Ibrahim wohnt mit ihren zwei Kindern im 23. Stock, dem zweiten von oben. Das Treppenhaus ist voller Rauch, da können sie nicht durch. Während die Flammen näher und näher kommen, wird Ranias Angst unerträglich. - Rania Ibrahim und ihre Kinder werden kurz darauf zu denen gehören, die die Behörden auf der Vermissten-Liste führen.
    Schock, Anteilnahme und Verzweiflung nach der Tragödie
    Zwei Monate ist das her. Die Polizei bewacht das abgesperrte Areal um den Grenfell Tower. Drinnen wird immer noch nach den sterblichen Überresten der verbrannten Bewohner gesucht. Vor der Methodistischen Kirche Notting Hill in Sichtweite des Grenfell Tower stehen dutzende Sträuße frischer Blumen in Plastikeimern. Stofftiere, hunderte Kerzen, selbstgemalte Bilder, Suchzettel von Angehörigen, die die Hoffnung nicht aufgeben können. Immer noch kommen jeden Tag Menschen von überall hierher, um der Toten von Grenfell Tower zu gedenken.
    "Ich erweise ihnen meine Ehre. Es ist so traurig. Grauenvoll, einfach schrecklich, was passiert ist."
    Die Ohnmacht der Augenzeugen
    Eine beklemmende Stille liegt über dem Ort. Eine ältere Dame, Portugiesin, seit 25 Jahren zu Hause in Latimer Road, hat nachts Alpträume. Den brennenden Grenfell Tower hat sie von ihrem Gärtchen aus beobachtet. Die Menschen drinnen schrien um Hilfe, sie gaben Lichtzeichen mit ihren Handys, um zu zeigen, wo sie eingeschlossen waren.
    "Eine Mutter nahm ihr Kind und warf es aus dem Fenster, als die Flammen sie erreichten. Die Nachbarin hat all das mit angesehen. Und konnte nichts, aber auch gar nichts tun, um zu helfen. Das verfolgt sie bis heute."
    Wütender Protest für Theresa May zwei Tage nach dem Brand
    Als Theresa May am immer noch rauchenden, dampfenden Grenfell Tower erschien, wurde sie mit wütendem Protest empfangen. Die britische Premierministerin kam erst zwei Tage nach dem Brand, um den Menschen ihr Mitgefühl zu zeigen - abgeschirmt von Polizisten. Besser als nichts, oder?
    "Sie ist nicht sofort zum Volk gekommen. Und als sie schließlich kam, da hat sie sich abschirmen lassen. Sie hat den Menschen nicht die Hand gereicht. Die haben alle Angst vor den normalen Leuten."
    "Wiederholte, deutliche Warnungen der Mieter ignoriert"
    In Latimer Road haben sie die Schnauze gestrichen voll. Immer noch sind sie wütend auf die Tory-Regierung, die sich nicht für die Armen interessiert - so sehen sie das hier. Sie sind wütend auf die Vermietungsgesellschaft, die bei der Renovierung des Grenfell Tower 2015 eine brennbare Fassadendämmung anbrachte und auf Brandschutzmaßnahmen verzichtete. Sie sind sauer auf die Stadtverwaltung, die das zuließ, offenbar um Geld zu sparen. Und die die wiederholten, deutlichen Warnungen der Mieter ignorierte. Bis heute, empören sich die Bürger, hätten die da oben nichts kapiert. Den Opfern des 14. Juni werde auch deshalb nicht genug geholfen.
    "Sie müssen aus den Hotels, wo sie untergebracht sind, herkommen und ihr Essen oder ihre Gutscheine abholen. Und das ist genau falsch. Man müsste ihnen diese Dinge bringen."
    Verlust von Angehörigen, Freunden, Besitz, Vergangenheit
    Unter dem Namen Artists for Grenfell haben 50 Künstler Simon and Garfunkels 'Bridge Over Troubled Water' neu aufgenommen, um Geld für die Opfer zu sammeln. Es gibt viele freiwillige Helfer. In der Latimer Community Church etwa. Ihr Leiter Simon Blanch lebt seit Jahrzehnten im Viertel. In den ersten Tagen nach dem Feuer, erzählt er, ging es akut um Essen, Kleidung und offene Arme für die verschreckten, verzweifelten Opfer.
    Zwei Monate nach dem Brand vermittelt die Kirche Psychologen oder sammelt für Kurzreisen an die Küste, um den traumatisierten Überlebenden eine Pause zu verschaffen. Diejenigen, die mit dem Leben davonkamen, haben im Feuer Angehörige und Freunde verloren und alles, was sie besaßen. Sogar ihre Vergangenheit, sagt Simon Blanch:
    "Sie können den Menschen Geld geben und sie kaufen sich neue Kleidung. Aber was sie nicht wieder kaufen können, sind verbrannte Fotografien und verlorene Andenken. Das sind die Dinge, die den Menschen am wertvollsten sind."
    "Manchmal muss ich selbst auch weinen"
    Die Latimer Community Church kümmert sich auch um die traumatisierten Nachbarn von Grenfell Tower.
    "Manchmal muss ich selbst auch weinen. Besonders, wenn wieder jemand identifiziert wird, den ich kannte. Menschen, die ich auf der Straße gegrüßt habe. Und dann hörst Du ihre Namen in den Nachrichten. Das tut schon sehr weh."