Dienstag, 19. März 2024

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Nach dem Putschversuch
Erdogan verhängt dreimonatigen Ausnahmezustand

Nach dem gescheiterten Putsch hat die türkische Führung den Ausnahmezustand im Land verhängt. Dieser gelte für drei Monate, verkündete Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Unter dem Ausnahmezustand können die Behörden Ausgangssperren verhängen, Versammlungen untersagen und Medien-Berichterstattung kontrollieren oder verbieten.

20.07.2016
    Erdogan verhängt Ausnahmezustand über die Türkei (22.07.2016)
    Erdogan verhängt Ausnahmezustand über die Türkei. (dpa / picture alliance / Tolga Bozoglu)
    Erdogan kann nun weitgehend per Dekret regieren. Grundrechte wie die Versammlungs- und die Pressefreiheit können nach dem Gesetz zum Ausnahmezustand ausgesetzt oder eingeschränkt werden.
    Erdogan begründete den Ausnahmezustand mit Artikel 120 der Verfassung. Dieser erlaubt den Schritt bei "weit verbreiteten Gewaltakten zur Zerstörung der freiheitlich-demokratischen Ordnung" oder bei einem "gravierenden Verfall der öffentlichen Ordnung". Der Beschluss muss im Amtsanzeiger veröffentlicht und ans Parlament übermittelt werden. Das Parlament kann die Dauer des Ausnahmezustands verändern, ihn aufheben oder ihn auf Bitte des Kabinetts verlängern.
    Kampf gegen Gülen-Bewegung
    Erstmals seit dem Putschversuch war der Nationale Sicherheitsrat unter Erdogan zusammengekommen. Anschließend tagte das Kabinett unter dem Vorsitz des Präsidenten, um über neue Schritte im Kampf gegen die Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen zu beraten. Erdogan macht Gülen für den Umsturzversuch aus den Reihen des Militärs mit mehr als 260 Toten verantwortlich. Er fordert die Auslieferung Gülens aus den USA. Der Prediger selbst hat die Vorwürfe zurückgewiesen.
    Die Regierung geht seit dem Putschversuch mit harter Hand gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger vor. Das türkische Bildungsministerium hat 626 Schulen und Institute geschlossen. Die meisten seien private Bildungseinrichtungen, sagte ein Ministeriumssprecher. Sie sollen in Verbindung zur Gülen-Bewegung stehen.
    Zehntausende Lehrer und Ministeriumsangestellte suspendiert
    Zuvor hatte die Hochschulverwaltung einem Medienbericht zufolge allen Akademikern bis auf weiteres die Ausreise verboten. Lehrpersonal im Ausland ohne zwingenden Aufenthaltsgrund werde aufgefordert, baldmöglichst in die Türkei zurückzukehren, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu.
    Staatliche und private Universitäten sollten Mitarbeiter aus dem Lehrkörper überprüfen, ob sie Verbindungen zur Gülen-Bewegung haben, und gegebenenfalls dem Hochschulrat melden. Das gelte auch für ausländisches Lehrpersonal.
    Aus Regierungskreisen hieß es, es handele sich um eine vorübergehende Maßnahme. Damit solle die Flucht von "angeblichen Komplizen der Umstürzler in Universitäten" verhindert werden. Einzelpersonen würden verdächtigt, in Kontakt mit den Putschisten aus den Reihen der Streitkräfte gestanden zu haben.
    Die Verwaltung ordnete am Mittwoch zudem die Suspendierung von weiteren 6.500 Mitarbeitern des Bildungsministeriums an. Schon einen Tag zuvor waren mehr als 15.000 Mitarbeiter entlassen sowie die Lizenz von 21.000 Lehreren an Privatschulen entzogen worden. Zudem hatte die Regierung die Demission von 1.577 Dekanen an allen Universitäten des Landes angekündigt.
    Lokale Medien berichten zudem, zwei Verfassungsrichter seien ihres Amtes enthoben worden. Staatspräsident Erdogan hat weitere Festnahmen angekündigt. Viele Menschen seien bereits verhaftet worden, aber man sei noch nicht am Ende, sagte Erdogan dem Sender Al Dschasira. Der Kampf gegen die Bewegung des islamischen Predigers Gülen werde weitergeführt.
    Akgün: Offene Stellen werden mit Erdogan-Anhängern besetzt
    Die frühere SPD-Politikerin Lale Akgün zeigte sich von den Entwicklungen nicht überrascht. Präsident Erdogan strebe einen Staat an, der seinen Wünschen entspreche, sagte sie im Deutschlandfunk. Damit gehe auch ein Umbau des Erziehungssystems einher. Die offenen Stellen in den Schulen und im Öffentlichen Dienst würden nun mit seinen Anhängern besetzt, die schon warteten.
    Ein Mann mit einer blutigen Türkeiflagge an der Bosporus-Brücke in Istanbul, wo Soldaten auf Putschgegner geschossen haben.
    Bei dem Putschversuch starben mehr als 260 Menschen. (AFP / Bulent Kilic)
    Die Bundesregierung kritisierte das türkische Vorgehen. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte in Berlin, die täglich neuen Maßnahmen liefen einer rechtsstaatlichen Vorgehensweise zuwider und respektierten nicht das Gebot der Verhältnismäßigkeit.
    Uhl: Türkei könnte von Transit- zu Fluchtland werden
    Der CSU-Außenpolitiker Hans-Peter Uhl befürchtete wegen der aktuellen Lage Unruhen in der Türkei. Die Bevölkerung sei tief gespalten, sagte der Bundestagsabgeordnete im DLF. Entscheidende Kräfte seien nicht bereit, den Weg von Staatspräsident Erdogan hin zu einem autoritären Staat mitzugehen.
    Uhl sprach von einem weiteren Putsch. "Ich fürchte vor allem eins, dass der nächste Putsch, der von einer anderen Qualität sein wird, aus diesem Grunde von Erdogan verursacht, unaufhaltsam ist." Er warnte vor einer Flüchtlingswelle, die aus der Türkei einsetzen könnte.
    Türkei sperrt Wikileaks
    Am Mittwoch sperrte das Amt für Telekommunikation zudem den Zugang zu Wikileaks. Die Internet-Enthüllungsplattform hatte am Tag zuvor E-Mails von Mitgliedern der regierenden AK-Partei veröffentlicht.
    Die Datenbank bestehe aus 762 Posteingängen und insgesamt 294.548 E-Mails. Sie seien jeweils von Adressen verschickt worden, die der Homepage der AKP zuzuordnen seien. Der Inhalt solcher Mails beziehe sich aber meist nicht auf Interna der Regierung, sondern auf außenpolitische Themen. Die aktuellste Mail sei am 6. Juli verschickt worden, die älteste stamme aus dem Jahr 2010. Das Material sei eine Woche vor dem Putschversuch in der Türkei erlangt worden.
    (hba/ach/tzi)