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Nach dem Referendum
Kultur ohne Macht

Britische Künstler und Kulturschaffende waren größtenteils dafür, in der EU zu bleiben. Allerdings haben das viel zu wenige im Wahlkampf auch gesagt – oder zu spät. Das könnte symptomatisch sein. Die Leiterin der Londoner Goethe-Instituts meint, Kultur – und damit auch der Geist von Austausch und Weltoffenheit – erreiche viele Briten nicht mehr.

Von Sandra Pfister | 26.06.2016
    Proteste in London vor dem Houses of Parliament
    Proteste in London gegen das Brexit-Referendum. (dpa, picture-alliance, EPA Facundo Arrizabalaga)
    Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling war eine der ersten, die reagierte. ""Proud to be part of ‪#TheIndecentMinority", twitterte sie, "Ich bin froh, Teil der Minderheit zu sein". Und: "Nie habe ich mir mehr Zauberkraft gewünscht als jetzt."
    Die Liste ließe sich fortsetzen. Sänger wie der ehemalige Oasis-Bandleader Liam Gallagher haben ebenso entsetzte und bedauernde Tweets abgesetzt wie die Sängerin Lily Allen, die Stil-Ikone Alexa Chang oder die Modedesignerin Vivienne Westwood.

    Der Illustrator Axel Scheffler, dessen Grüffelo in Deutschland sehr bekannt, in England aber fast schon nationales Kulturgut ist, ist alarmiert:

    "Ich sehe zunächst mal ein sehr schlimmes Signal, eine besorgniserregende Entwicklung, es wird einfach Wasser auf die Mühlen der Populisten in Frankreich, Holland und anderen Ländern sein. "Tatsächlich waren britische Künstler und Kulturschaffende größtenteils dafür, in der EU zu bleiben. Allerdings haben das viel zu wenige im Wahlkampf auch gesagt – oder zu spät. Und interessiert habe das sowieso nicht, weil die meisten Kulturschaffenden in London sitzen und im Rest des Landes wenig gehört würden.
    "Ja, die haben sich engagiert, aber ich denke, das ist in einer Bubble passiert, die die meisten Briten überhaupt nicht wahrnehmen."

    Die Bubble, eine kulturelle Blase – von der spricht auch Angela Kaya, die Leiterin des Londoner Goethe-Instituts. Kultur – und damit auch der Geist von Austausch und Weltoffenheit – erreiche viele Briten nicht mehr.
    "Wir sind also in Städten, die, wie sich herausgestellt hat, eine Art Bubble sind, also eine Welt für sich. Und unsere Möglichkeiten, die Provinzen zu erreichen, sind gegeben, aber vielleicht noch zu wenig wahrgenommen worden."
    Lange Zeit waren Schauspieler, Museumsdirektoren oder Schriftsteller so gut wie abgetaucht – vielleicht, weil sie sich als unpolitisch definieren, oder weil sie das Gefühl hatten: So eng wird es nicht, die meisten Briten werden schon vernünftig sein. Waren sie aber nicht. Der britische Journalist Tony Paterson.
    "Wenn eine solche Entscheidung vorgegeben wird, dann werden sämtliche Sachen wie Kultur beiseitegelegt und da werden die momentanen Bedürfnisse und Ängste darauf konzentriert. In diesem Fall war es hauptsächlich die Migration, und da geht Kultur baden, weil die Leute eigentlich Angst haben, wir werden überrannt. Kultur ist auf einer ganz anderen Ebene und spricht eine ganz andere gesellschaftliche Schicht an."
    Auch jetzt interessiert es in Großbritannien nicht besonders, was die Kulturschaffenden zum Brexit zu sagen haben. Der Premierminister tritt zurück, Abgeordnete des Remain-Lagers fangen vor laufenden Mikros an zu weinen, und das Pfund stürzt ab – da besteht nicht gerade ein Riesenbedarf an Statements von der Kulturelite. Denn Künstler werden als Teil des Establishments gesehen – und von vielen einfacher gestrickten Briten mit der gleichen Establishment-Verachtung überzogen, die auch Politiker trifft.
    Wie konnte es soweit kommen? Martin Roth, Direktor des Victoria and Albert-Museum in London, gibt nicht nur der Angst vor Einwanderung die Schuld, die den Wahlkampf so dominiert hat.
    "Das ist das England der Seefahrer. Viele haben einfach über Europa hinweggeschaut. Die Welt war für die Seefahrernation England einfach immer viel größer als dieser Blick nach Europa, und das spürt man jetzt auch."
    Viele Briten seien seit der Schulzeit darauf getrimmt, der gloriosen britischen Vergangenheit hinterher zu trauern, ergänzt der Brite Tony Patterson.
    "Da wurde Geografie gelernt in Form von: Wir haben viele rosafarbene Punkte auf der Karte, der kleinste ist Großbritannien, die großen sind Indien und Kanada, und die gehören alle zu uns, uns die sind wichtig. Es gibt meiner Meinung nach eine gewisse Sehnsucht nach den Zeiten, wo es Kolonien gab und wir alles selber in der Hand hatten.
    Wie könnte es nach der Brexit-Entscheidung für die britischen Kulturschaffenden weiter gehen? Philip Jones von "The Bookseller", dem britischen Pendant zum "Börsenblatt des deutschen Buchhandels", spricht von einem "Nightmare Scenario" für die Verlage. Mittelfristig könnten auch viele europäische Künstlerstipendien und Fördermittel wegfallen – doch da hofft Angela Kaya vom Goethe-Institut London noch auf ein Entgegenkommen der EU.
    "Da wird es sicher einen Weg geben, wie bei Norwegen, Norwegen ist kein Land der Europäischen Union, nimmt aber an den Programmen teil, kann sich bewerben. Die Situation für die Künstlerinnen und Künstler in diesem Land wird dadurch aber nicht wesentlich verbessert werden."

    Der Verband der britischen Kreativindustrie fürchtet, dass die britische Kultur als Wirtschaftssektor schrumpft. Museumsdirektor Martin Roth glaubt, man müsse damit rechnen, dass irgendwann wieder Zölle eingeführt würden; das würde es für die Museen erschweren, an Leihgaben heranzukommen. Doch das Schlimmste sei die negative Tonlage, die auch Europa zu infizieren drohe.
    "Wenn Europa jahrzehntelange etwas war, was Hoffnung gebracht hat, uns Zusammenhalt gebracht hat, oder Solidarität, dann ist das zerfallen. Jetzt ist die Rhetorik Zerfall und Abspaltung. Das macht den großen Schaden aus. Deshalb bin ich auch mehr als besorgt. Wenn das so weitergeht, muss die Kultur sich schon deutlich zu Wort melden, um wieder zeigen zu können, welche Macht sie eigentlich innehat."