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Nach den Anschlägen von Paris
"Zwischen Krieg und Frieden"

Entweder es ist Krieg oder es herrscht Frieden - etwas dazwischen kennen wir nicht. Doch die Terroristen von Paris haben diesem Schema einen neuen "Modus" hinzugefügt, meint der Politologe Herfried Münkler: Es gebe nun keine Gewissheit mehr, ob wir in Krieg oder Frieden lebten, sagte er im DLF. Dieser Tatsache richtig zu begegnen sei die eigentliche Herausforderung nach den Anschlägen.

Herfried Münkler im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske | 16.11.2015
    Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaften an der Humboldt Universität Berlin.
    Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaften an der Humboldt Universität Berlin. (imago/IPON)
    Doris Schäfer-Noske: Seit den Anschlägen von Paris ist überall die Rede von Krieg. Die französische Regierung erklärte, man befinde sich im Krieg, Bundespräsident Gauck hat von einer neuen Art von Krieg gesprochen und der Papst vom Dritten Weltkrieg. Die Bundesregierung distanzierte sich dagegen heute von diesem Begriff. Man könne die Anschläge von Paris zwar umgangssprachlich als Krieg bezeichnen. Allerdings knüpften sich an den Begriff verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Konsequenzen, über die jetzt nicht spekuliert werden solle. Nach den Anschlägen vom 11. September hat der Berliner Politologe Herfried Münkler in seinem Buch "Die neuen Kriege" sogenannte asymmetrische Konflikte beschrieben, also Kriege, in denen keine Armeen mehr gegeneinander kämpfen, sondern Terrorkämpfer gegen die Weltmächte. Frage an ihn: Herr Münkler, ist es denn Ihrer Meinung nach gerechtfertigt, bei den Anschlägen in Paris von Krieg zu sprechen?
    Herfried Münkler: Ich würde selber nicht von Krieg sprechen. Ich meine natürlich: Dass die Deutschen, die ja so sehr juristisch fixiert sind, dann gleich über mögliche juridische Konsequenzen nachdenken, zeigt, dass sie eigentlich noch nicht die Dynamik und die Dramatik dieser Herausforderung begriffen haben, sondern glauben, sie könnten in den herkömmlichen Schablonen sich bewegen. Das Eigentliche an dieser terroristischen Herausforderung ist, dass sie sich genau zwischen Krieg und Frieden ansiedelt, und das ist eine weitreichende Gefährdung unserer Ordnung, denn die besteht im Prinzip darin, dass wir die Gewissheit haben, entweder Krieg oder Frieden und ein Drittes gibt es nicht. Und dieses "und ein Drittes gibt es nicht" ist durch den Terrorismus gestrichen. Entscheidend ist es, darüber nachzudenken, was es bedeutet, wenn die Struktur einer Ordnung, die auf dieser Binarität "entweder oder und ein Drittes gibt es nicht" beruht, aufgebrochen wird, und das ist die große Herausforderung, vor der wir jetzt stehen.
    "Wir scheitern daran, dass unser zeitlicher Atem nicht lang genug ist"
    Schäfer-Noske: Welche Unterschiede gibt es denn zu Ihrer Definition der asymmetrischen Konflikte, die Sie vor über zehn Jahren beschrieben haben?
    Münkler: Meine These war damals, dass das Geschehen des Krieges fluid geworden ist, dass die Staaten nicht mehr die Herren des Krieges sind, sondern dass Organisationen, die selber nicht eine gleiche Struktur haben wie Staaten, kriegführungsfähig geworden sind. Da habe ich mich noch relativ stark in dieser Binarität von Krieg und Frieden bewegt. Ich glaube aber, dass man mit dem Abstand von, na ja, bald 15 Jahren sagen kann: Das Entscheidende der terroristischen Herausforderung ist das Aufbrechen dieser alten europäischen, westlichen Schematisierungen und die Hereinführung eines dritten Modus der Gewalt, für die wir noch keinen Namen haben.
    Schäfer-Noske: Was bedeutet das denn jetzt für uns?
    Münkler: Das bedeutet für uns, dass wir sinnvollerweise erst einmal nachdenken, was das ist und was das bedeutet und welche strategischen Vorteile ein Akteur hat, der sich zwischen Krieg und Frieden angesiedelt hat. Um es konkret zu sagen: Über welche Zeitressourcen verfügt er und über welche Zeitressourcen verfügen wir? In der Frage des Versuchs, gewissermaßen den Terroristen ihre Basis zu nehmen, indem man Afghanistan in eine andere Gesellschaft verwandelt, bei der es dann in der Lage ist, terroristische Akteure mit polizeilichen Mitteln herauszunehmen und so weiter, hat sich gezeigt: Wir scheitern im Prinzip daran, dass unser zeitlicher Atem nicht lang genug ist, um 30 oder 40 Jahre in einem Land zu bleiben und dieses Land dann tatsächlich so umzubauen, und wenn wir das nicht können, dann müssen wir halt überlegen, dass wir es anders machen. Man kann sagen, dass die amerikanische Strategie, diese Netzwerke zu bekämpfen, indem sie immer wieder Knoten im Netzwerk zerreißen - und das haben sie mithilfe von Drohnenangriffen getan -, die ganze Zeit offensichtlich ganz gut funktioniert hat, denn Al Kaida hatte keine strategische Angriffsfähigkeit mehr. Aber was wir jetzt beobachten ist, dass dieser andere Akteur, der sich sehr viel stärker territorialisiert hat als Al Kaida, nämlich der IS, dass der auf diese Weise nicht bekämpfbar ist und dass er sehr viel robuster ist, und da muss man vielleicht doch mal noch einen Augenblick nachdenken und nicht erschrocken aus dem Bett springen, in die Stiefel stürzen und dann losmarschieren. Es könnte sein, dass man in die falsche Richtung läuft.
    "Reaktionen zu unterlassen ist die eigentliche Herausforderung"
    Schäfer-Noske: Wie groß ist denn die Gefahr jetzt für unsere offene Gesellschaft durch die Angst, die jetzt viele Menschen ergriffen hat?
    Münkler: Das ist genau der Effekt, den Terroristen - Terror heißt ja Schrecken und Angst - erzeugen wollen, und diese Angst kann dazu führen, dass, sagen wir mal, um ein Szenario zu beschreiben, wir tendenziell jeden, der nicht so aussieht wie wir, oder den wir verdächtigen, er könnte in irgendeiner Weise aus dem vorderen Orient kommen, schlecht behandeln, diskriminieren, misstrauisch machen, und dass wir auf diese Weise selber durch unsere Dummheit das Rekrutierungspotenzial für den IS oder für den Dschihadismus vergrößern. Und genau das ist das Heimtückische an der terroristischen Strategie. Die Schönredner glauben, das Heimtückische ist, dass die aus dem Hinterhalt zuschlagen. Na ja, das ist es sicher auch. Aber das Entscheidende ist, dass wir es mit einer Strategie zu tun haben, die auf der Seite des Angegriffenen Reaktionen provoziert, die genau dazu führen, dass der Angreifer gestärkt wird. Diese Reaktionen zu unterlassen, ist die eigentliche Herausforderung.
    Schäfer-Noske: Kann denn das Ganze aus Ihrer Sicht auch zu einem Zusammenrücken führen, wo möglich sogar zu einem Wiedererwachen Europas?
    Münkler: Es gibt wenig Grund, nach den jüngsten Erfahrungen da besonders auf die europäische Solidarität zu setzen. Also sagen wir so und knapp und klar: Europa hat jetzt einigermaßen drei Krisen hinbekommen: Eurokrise, Ukraine-Krise, Flüchtlingskrise. Aber eine solche Krise mit den entsprechenden Zentrifugalkräften wird wahrscheinlich dazu führen, dass Europa danach nicht mehr das Europa ist, das es davor war.
    Schäfer-Noske: Das war der Politologe Herfried Münkler über die Folgen der Anschläge von Paris für unsere Gesellschaft.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.