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Nach der Armenier-Resolution
Druck auf Deutschtürken

Seit der Bundestag in einer Resolution den türkischen Genozid an den Armeniern verurteilt hat, ist die Stimmung zwischen Deutschland und dem türkischen Präsidenten Erdogan auf dem Tiefpunkt. Betroffen vom Streit sind auch die zwei bis drei Millionen Deutschtürken. Viele von ihnen fühlen sich beleidigt vom Bundestagsbeschluss, während Migrantenvereine noch Öl ins Feuer gießen.

Von Jens Rosbach | 09.06.2016
    Teilnehmer einer Demonstration in Berlin schwenken türkische Flaggen vor dem Brandenburger Tor.
    Demonstrationszug mehrerer türkischer Verbände in Berlin gegen die geplante Bundestags-Abstimmung über eine Armenien-Resolution. (picture alliance / dpa / Klaus-Dietmar Gabbert)
    Özcan Mutlu ist aufgebracht. Der türkischstämmige, grüne Bundestagsabgeordnete hat eine Flut von Hassbotschaften erhalten – wegen der Armenien-Resolution.
    "Da twittert der Oberbürgermeister von Ankara, der hat 3,2 Millionen Follower, ein Foto von uns – wie ein Fahndungsfoto, steckbriefmäßig – alle elf Abgeordneten mit türkischer oder kurdischer Herkunft, werden mit Namen und Parteizugehörigkeit dort angezeigt und Hashtag lautet: ‚Merkt Euch diese Vaterlandsverräter!‘"
    Am Wochenende hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Debatte zugespitzt: Er beschimpfte die türkischstämmigen Parlamentarier in Deutschland als verlängerten Arm der PKK. Der 48-jährige Mutlu traut sich nun nicht mehr, in die Türkei zu fliegen: Dort könne ihm jetzt alles Mögliche widerfahren.
    "Das kann im Worst Case Tod sein. Das kann im Best Case eine verbale Auseinandersetzung sein, die vielleicht dann irgendwie in einer Schlägerei endet, wo dann die Person X aus dem Deutschen Bundestag verprügelt wird. Alles ist möglich!"
    Drohungen gegen Volksvertreter
    Auch Mutlus Kollege, Grünen-Chef Cem Özdemir, erhält Drohungen – sogar ausdrückliche Morddrohungen. Bizarr: Özdemir und Mutlu sind deutsche Staatsbürger. Mutlu war nicht einmal bei der Resolutions-Abstimmung dabei.
    "Ich habe aufgrund anderer terminlicher Verpflichtungen nicht teilnehmen können."
    Die Drohungen gegen türkischstämmige Volksvertreter stoßen auf geteilte Reaktionen in der Migranten-Community: Die Türkische Gemeinde Deutschland lehnt zwar die Armenien-Resolution ab, distanziert sich aber von Erdogans Vorwürfen sowie von "gewaltverherrlichenden Äußerungen". Anders die Tonlage bei der Türkischen Gemeinde Berlin, die unabhängig von ihrem Dachverband arbeitet und als konservativer gilt. So bezweifelt Bekir Yilmaz, der Präsident der Berliner Vereinigung, dass Bundestagsabgeordneter Özdemir überhaupt Morddrohungen erhalten hat.
    "Ich glaube, dass der das Ganze ein bisschen inszeniert. Er soll es beweisen!"
    Bekir Yilmaz, der nach eigenen Angaben 76 Hauptstadt-Vereine mit 100.000 Deutschtürken vertritt, empfängt in seiner Berliner Firma zum Interview, einer Gebäudereinigungs-Firma. An der Decke: Neonlichtstrahler. Auf einem Schrank: Familienfotos. An der Wand: ein Krummdolch. Yilmaz kritisiert zwar Erdogans Terrorismusvorwürfe. Aber die Website des Berliner Vereins unterstellt den türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten ebenfalls Unredliches - nämlich "Effekthascherei" und "Profilierungsgehabe". Heizt der Verbandsfunktionär damit nicht auch die Stimmung an? Die Abgeordneten hätten selbst schuld, antwortet der 49-Jährige, sie hätten lieber das deutsche Massaker an den afrikanischen Hereros verurteilen sollen.
    "Wie kommt der Bundestag dazu, die deutsche Geschichte irgendwie beiseitezulassen, und über türkische/osmanische Geschichte zu richten? Und so viel muss dann auch erlaubt sein."
    Yilmaz nimmt die Abgeordneten mit türkischen Wurzeln in die Pflicht: Auch wenn nicht alle bei der Bundestags-Abstimmung dabei gewesen seien, so hätten sie doch zumindest über die "wahren" Vorgänge von 1915 aufklären müssen.
    "Was uns verärgert hat, die wären in der Lage, ihre deutschen Kollegen auch zu informieren. Die haben keine Ahnung was damals passiert ist. Und das haben sie nicht getan. Und dafür kann man, können wir, als türkische Community in Deutschland, uns von denen distanzieren."
    Distanzierung zur Resolution
    Wie weit die Distanzierung reicht, zeigt der jüngste Eklat um die Berliner Sehitlik-Moschee. Hier sollten heute Abend Grünen-Abgeordneter Özcan Mutlu sowie Bundestagspräsident Norbert Lammert am feierlichen Fastenbrechen teilnehmen. Die Moschee ließ das Treffen jedoch kurzfristig platzen. Mit dazu beigetragen hat, offensichtlich, die Türkische Gemeinde Berlin. Ihr Präsident Yilmaz hatte sich zuvor auf Facebook gegen den hochrangigen Besuch ausgesprochen. Gegen Mutlu, weil er ein deutschtürkischer Kritiker ist – aber warum gegen Lammert?
    "Er hat ja schon letztes Jahr gesagt, dass es ein Völkermord war. Der hat das Ganze ja auch ein bisschen initiiert. Deswegen habe ich das auch gepostet. Das soll auch keiner vergessen!"
    Bekir Yilmaz hat in den vergangenen zwei Wochen drei Protestaktionen in der Berliner City organisiert – mit jeder Menge türkischer Fahnen. Alles Kampagne, alles integrationsfeindlich – bilanziert Erol Özkaraca, ein deutsch-türkischer Anwalt und Sozialdemokrat. Das Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses ist überzeugt: Die hiesigen türkischen Vereine stünden entweder personell, finanziell oder ideologisch unter dem Einfluss Ankaras.
    "Jeder sieht sich hier als kleiner Botschafter. Weil sie in erster Linie die Interessen der Republik Türkei hier vertreten."
    Meinungsmache und Druck
    Der 52-Jährige berichtet, dass intellektuelle, linksliberale Türken häufig Angst hätten, sich mit der konservativen Migranten-Mehrheit anzulegen. Er vermutet, dass auch Bundestagsabgeordnete vorsichtig sein müssen; wahrscheinlich habe auch Grünen-Politiker Özcan Mutlu deshalb nicht an der Resolutions-Abstimmung teilgenommen. Mutlu hat "andere terminliche Verpflichtungen" angeführt – doch Sozialdemokrat Özkaraca bezweifelt dies.
    "Ein Grünen-Politiker, der permanent Solidarität mit Minderheiten in der Türkei bekundet, in dieser Frage dann aber nicht zur Abstimmung geht, das muss er mal erklären."
    Der Kritiker warnt - angesichts des Drucks aus Ankara, der Meinungsmache türkischer Verbände und der Morddrohungen:
    "Wohin kämen wir denn eigentlich, wenn Politik unter Bedrohung zustande kommt? Dann ist doch die Demokratie gefährdet!"