Mittwoch, 24. April 2024

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Nach der Krise ist vor der Krise

Das Klischee vom Hungerkontinent Afrika wird auf traurige Weise Jahr für Jahr von neuem bestätigt: Kenia hat den Notstand für zweieinhalb Millionen Menschen ausgerufen. Weitere zwei Millionen hungern in Somalia, eine Million in Äthiopien. Und auch Mali gehört als Teil der Sahelregion zu den besonders gefährdeten Ländern. Dort konnte die jüngste Katastrophe jedoch abgewendet werden – dank internationaler Hilfestellung. Bettina Rühl berichtet.

07.01.2006
    Ziegen, Schafe und Rinder stehen rund um den Brunnen der Oase Dar es Salaam und warten darauf, dass sie getränkt werden. Die Hirten werfen ihre schwarzen Gummibeutel in die Tiefe; erst 70 Meter unter der Erdoberfläche landen die Wasserbeutel platschend an ihrem Ziel. Dann werden die Kamele angetrieben, die die Beutel über Flaschenzüge wieder in die Höhe ziehen.

    Die Menschen hier im Norden von Mali sind überwiegend Tuareg und leben bis heute von ihren Herden, weil Ackerbau wegen der Trockenheit nicht möglich ist. Selbst wer das nomadische Leben der Vorfahren aufgab und mehr oder weniger sesshaft wurde, hält sich nach Möglichkeit Tiere. In der Region sind Ziegen, Schafe und Rinder so etwas wie ein lebendiges Bankkonto: Bei Bedarf werden einzelne Tiere zum Markt gebracht, um von dem Erlös Getreide oder Medikamente, Kleidung oder Schulbücher zu kaufen. Rund um den Brunnen von Dar es Salaam drängen sich noch immer hunderte von nervösen Tieren, doch noch vor einigen Monaten waren es deutlich mehr. Denn vielen Menschen in der Region ging es so wie Sheick Ahmed Ould Mohammed:

    "Zwischendurch war die Situation für uns alle sehr schwierig. Denn das Getreide war unglaublich teuer geworden, und gleichzeitig bekamen wir für unser Vieh kaum noch Geld. Deshalb mussten wir immer mehr Tiere verkaufen, um uns einen Sack Getreide leisten zu können. Das ist hart, denn wir leben von unseren Herden. Nicht alle hier haben gleich viele Tiere. Wer wenig hat wird von denjenigen unterstützt, die größere Herden haben."

    In normalen Zeiten lassen sich für eine durchschnittlich große Ziege hundert Kilo Hirse einlösen. Doch in den vergangenen Monaten stieg der Getreidepreis um das vierfache: Für einen Sack mussten bis zu vier Ziegen verkauft werden. Der 70-jährige Sheick Ahmed Ould Mohammed hätte bei den hohen Preisen nicht lange überleben können: Innerhalb weniger Monate musste er ein Drittel seiner kleinen Herde verkaufen - fünf von ehemals fünfzehn Ziegen. Doch letztlich hatte er Glück und musste sein lebendes Konto nicht völlig auflösen: Die malische Regierung warnte vor einer dramatischen Ernährungskrise, die Hilfsmaschinerie sprang an – und konnte das Drama abwenden. Anke Weymann von der Deutschen Welthungerhilfe in Bamako:

    "Das hat in der vergangenen Krise sehr gut funktioniert, und zwar deshalb, weil das malische Frühwarnsystem sehr gut Analysen vorlegt und rechtzeitig die Daten geliefert hat um abzuschätzen welcher Engpass auf das Land zukommt. Das heißt dass alle diese Gebiete in denen es Defizite, also wo es einen Ernährungsengpass gab, ausgewiesen wurden, so dass entsprechend alle Partner, die für solche Maßnahmen eintraten, sich die Regionen sozusagen aufgeteilt haben, und das Zusammenspiel zwischen der Regierung, dem Welternährungsprogramm und den Nichtregierungsorganisationen hat gut geklappt, und insofern kam diese Hilfe auch rechtzeitig an. Und auch da, wo sie hinkommen musste."

    Regierung und Organisationen versuchten im Umfeld der letzten Krise gemeinsam, ein möglichst differenziertes Bild von der Not zu bekommen: Wo ist der Mangel besonders dramatisch? Und wo sind die Menschen in der Lage, sich mit etwas Unterstützung selbst zu helfen? An die besonders Bedürftigen verteilte das Welternährungsprogramm kostenlos Lebensmittel, die Welthungerhilfe verkaufte Getreide zu subventionierten Preisen.

    "Also man möchte jetzt nicht in dem Sinne die Menschen sofort zu Almosenempfängern machen, sondern die Bevölkerung unterstützen, indem sie mit der Kaufkraft, die im Moment vorhanden ist, ihre Nahrungsmittel zukaufen können. Was wir anstreben ist, dass niemand hungern muss, möglichst, aber wir wollen nicht die Selbsthilfekräfte der Menschen unterminieren, und wir wollen sie auch nicht entwürdigen, indem wir Hilfe geben, die sie eigentlich nicht brauchen."

    Die Gegend rund um Dar es Salaam galt als Krisen- aber nicht als Notstandsgebiet. Deshalb wurden Nahrungsmittel hier nicht kostenlos verteilt, sondern zu moderaten Preisen verkauft. Die Ausnahme: Mangelernährte Kinder, für die das Welternährungsprogramm Zentren einrichtete. Dort bekamen sie kostenlos Aufbaunahrung.

    Die drei Kinder von Aikine Tawi Ag Ahmad weichen nicht von der Seite ihres Vaters, während der mit den Besuchern spricht. Der 35-jährige lebt mit seiner Familie in einem offenen Zelt; Bastmatten, ein Bettgestell und einige Kisten sind das einzige Mobiliar. Seine drei Kinder sind neugierig und lebhaft – krank oder mangelernährt wirken sie nicht. Doch die Ernährung seiner Familie ist für Aikine Tawi Ag Ahmad ein harter Kampf: Er kann sich nicht einmal eine kleine Herde mit Ziegen leisten und gehört damit in seinem Heimatort Lerneb zu den Ärmsten der Armen. Sein einziges Tier ist ein Esel, den er tagtäglich vor einen Karren spannt und sich dann als Tagelöhner verdingt: Aikine Tawi Ag Ahmad bringt Wasser von Haus zu Haus.
    An guten Tagen verdient er damit gerade genug, um die zwei Kilo Reis zu kaufen, die er für seine Familie tagtäglich braucht. Sobald die Getreidepreise ansteigen, muss die Familie aber mit weniger auskommen und kann vielleicht nur noch jeden zweiten Tag essen.

    "Der subventionierte Verkauf hat uns in dem schwierigsten Moment, den wir durchgemacht haben, sehr geholfen. Denn dadurch bekamen wir 50 Kilo Getreide für nur 10.000 Francs CFA. Auf dem Markt hätten wir dafür 17.500 Francs bezahlen müssen. In meiner Situation heißt das: Um zum Sonderpreis kaufen zu können, musste ich zwanzig Tage lang arbeiten, dabei immer Glück mit der Kundschaft haben und gut verdienen. Um auf dem freien Markt kaufen zu können, hätte ich noch zehn Tage länger arbeiten müssen – und meine Familie hätte in der Zeit nichts zu essen gehabt."

    Der Verkauf wurde von den Kommunen selbst organisiert und von der Welthungerhilfe überwacht. Der Erlös aus dem Verkauf wird nun reinvestiert: Die Bevölkerung kann der Welthungerhilfe Entwicklungsprojekte vorschlagen, die aus den Einnahmen finanziert werden. Deshalb ist Aikine Tawi Ag Ahmed durchaus einverstanden damit, dass er für das Getreide bezahlen musste – obwohl er sein Geld mit so viel Mühe verdient:

    "Ein Geschenk bekommt man ein Mal, und dann ist es vorbei. Das hilft Menschen nicht wirklich, zu überleben. Doch der Verkauf zu subventionierten Preisen kann sich selbst tragen und daher über längere Zeit fortgesetzt werden."

    Allerdings hätte Aikine Tawi Ag Ahmad gerne mehr gekauft: Was er mitnehmen durfte, reichte für seine Familie gerade mal für zwei Wochen. Auch andere Familien klagen, dass sie nicht genug abbekamen – in den besten Fällen reichte das verbilligte Getreide für knapp einen Monat. Trotzdem ist nicht nur Aikine Tawi Ag Ahmad dankbar. Mahouloud Ould Mohammed ist der stellvertretende Bürgermeister von Lerneb:

    "Das war eine Erleichterung für die Leute. Es ist wie bei einem Kranken, der erste Hilfe bekommt: Er ist nicht geheilt, aber er kann etwas leichter atmen. Die Leute sind immer noch arm und es fällt ihnen immer noch schwer, das Getreide auf dem Markt zu bezahlen. Aber es gab immerhin einen knappen Monat, in dem sie sich satt essen konnten. Und es ist ein großer Unterschied ob ich fünf Monate lang nur unregelmäßig essen kann und häufig hungern muss – oder nur vier."

    Dass die Krise in Mali diesmal noch abgewendet werden konnte, liegt nicht nur an der frühen und gut koordinierten Hilfe aller beteiligten Organisationen. Am meisten geholfen hat vermutlich die Natur: Der dramatische Engpass blieb auf einige Monate beschränkt, denn die letzte Regenzeit kam pünktlich und war ertragreich. Nun fallen die Getreidepreise wieder, und die Herden können größer werden - bis die nächste Krise kommt.