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Juncker zu Europa in Coronakrise
"Der EU-Haushalt muss nach oben revidiert werden"

Kein Staat sei selbst verschuldet in die Coronakrise gerutscht, sagte der ehemalige EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker im Dlf. Jetzt müsse man deutlich machen, dass die EU eine Solidargemeinschaft sei. Das Solidarinstrument par excellence sei dabei der EU-Haushalt – der aufgestockt werden müsse.

Jean-Claude Juncker im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 17.04.2020
Der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat im Europaparlament in Straßburg seine Abschiedsrede gehalten.
Der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker spricht sich im Dlf für eine deutliche Aufstockung des EU-Haushalts aus (dpa/Philipp von Ditfurth)
Zwar seien die Entscheidungen der EU-Finanzminister zur Stabilisierung der europäischen Wirtschaft und Staatsfinanzen richtig gewesen, sagte Juncker im Dlf. Er glaubt aber nicht, dass diese ausreichten. Es müsse noch mehr Geld in die Hand genommen werden, da die Bewältigung der Coronakrise nicht billig würde.
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Jörg Münchenberg: Herr Juncker, hat Corona der EU wieder mal ihre Grenzen aufgezeigt?
Jean-Claude Juncker: Ja, das Wort, der Terminus "Grenzen" ist wohl der richtige, weil etwas kopflos von einigen Regierungen Grenzkontrollen, siehe Grenzschließungen dekretiert wurden. Am Anfang dieser Corona-Krise gab es kaum koordiniertes und abgesprochenes Vorgehen. Das ist insofern verständlich, als die Europäische Union und somit auch die Europäische Kommission keine Kompetenzen in Sachen öffentlicher Gesundheitspolitik haben. Das hatten vor 15 Jahren einige Staaten und auch die damalige Kommission vorgeschlagen, aber die Staaten haben diesen vernünftigen Vorschlag abgeschmettert, indem darauf verwiesen wurde, Gesundheit wäre nationales Anliegen und kann auch nur über die Verteilung nationaler Kompetenzen geregelt werden.
Jetzt hat sich die Lage so entwickelt, dass es immer mehr so zu sein scheint, als ob sich europäische Solidarität, jedenfalls europäisches Zusammentun und Zusammengehen wieder durchsetzen würden. Das wurde auch höchste Zeit, weil diese Grenzschließungen, die sind vom Bösen, und die sind auch vielen Bürgern nicht vermittelbar.
Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel aus meiner Region hier in Luxemburg. Deutschland hat seine Grenzen zu Luxemburg entweder geschlossen, oder strikte Grenzkontrollen verfügt, tut das aber nicht, wenn es um die Niederlande oder Belgien geht. Das stößt den Luxemburgern wirklich übel auf! Der Grenzort, der deutsch-französisch-luxemburgische Grenzort Schengen ist jetzt wieder geschlossen, im 25. Jahr der Schengen-Vereinbarung. Das ist unmöglich. Die Art und Weise, wie Deutschland hier einige seiner Nachbarn behandelt, wird bleibende Schäden zur Folge haben.
"Entscheidung schlüssig, aber nicht genügend"
Münchenberg: Sie haben vorhin angesprochen, es gibt keine Kompetenzen zum Beispiel bei der Gesundheitspolitik. Aber es geht auch um mangelnde Solidarität. Dieser Vorwurf kommt ja vor allen Dingen aus Italien und Spanien. Aus Ihrer Sicht: Wie groß ist der politische Schaden für die EU?
Juncker: Das wird man erst nach einigen Monaten sehen. Ich habe es überhaupt nicht goutiert, dass einige Regierungen, vornehmlich die niederländische, sich eines ruppigen Umgangstones mit Italien befleißigt haben. So zu tun, als ob Italien selbstverschuldet in diese Krise, aus der ja auch eine Finanzierungskrise erwachsen kann, gekommen ist, ist angesichts dieser dramatischen Zuspitzung der Lage nicht zulässig.
Wir müssen deutlich machen, vor allem in Richtung Italien und Spanien, dass die Europäische Union eine Solidargemeinschaft ist, und wenn jemand in Schwierigkeiten gerät, vor allem, wenn er dies unverschuldeterweise tut, dann muss die kontinentale Solidarität zählen.
Das wird sie auch, weil die Entscheidungen, die die Finanzminister am 9. April herbeigeführt haben, sind schlüssig, aber nicht genügend, weil das braucht auch das Mitwirken des europäischen Haushaltes, des EU-Haushalts. Der EU-Haushalt ist ja das Solidarinstrument par Excellence. Der europäische Haushalt muss aufgestockt werden. Mit diesen jetzigen Obergrenzen des europäischen Haushalts ist kein Staat zu machen.
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Münchenberg: Es geht um die mittelfristige Finanzplanung. Da gibt es ja Streit darum, wieviel mehr gezahlt werden soll, auch zum Beispiel von Deutschland. Sie erwarten da auch schon mehr Mittel aus Berlin in Richtung Brüssel?
Juncker: Ich bin der Meinung, dass die Beratungen, den Haushaltsrahmen 2021-2027 betreffend, die sowieso ins Stocken geraten sind, schnellstmöglich wieder aufgenommen werden müssten. Meine Kommission, wenn ich mich so ausdrücken darf, hat einen Vorschlag im März 2018 vorgelegt – mit der Maßgabe, dass die Entscheidungen schnell herbeigeführt werden sollten, weil wenn wir erst im Dezember diesen Jahres zu Potte kommen, dann werden die Programme, auch die Forschungsprogramme – die sind ja unbedingt notwendig in diesen Tagen – im Januar 2021 ins Stocken geraten.
Der Haushalt muss nach oben revidiert werden, weil das, was jetzt an Geldvolumina ins Auge gefasst ist, wird man nicht ohne eine kräftige Anhebung des EU-Haushaltes bewerkstelligen können. Und ich denke mir, dass diese Einsicht langsam in den Hauptstädten auch wachsen wird.
Münchenberg: Aber Sie würden auch direkt Berlin dabei ansprechen?
Juncker: Ja. Berlin ist Berlin. Deutschland ist ein Mitgliedsland der Europäischen Union und selbstverständlich muss Deutschland nach Lage der Dinge seinen Beitrag an die europäische Kasse erhöhen. Das steht auch so fast in klaren deutschen Hauptsätzen im Koalitionsabkommen, das 2017/18 beschlossen wurde.
"Billig wird die Krisenbewältigung nicht"
Münchenberg: Nun soll ja, Herr Juncker, trotzdem viel Geld fließen aus Brüssel. Es sind Hilfen aus dem ESM vorgesehen, Hilfen für Kurzarbeit, Hilfen für die Unternehmen. Da geht es um eine halbe Billion Euro. Da ist ja schon die Frage, ob das nicht auch erst einmal ausreicht.
Juncker: Ich kann das aus heutiger Sicht nicht einschätzen, weil niemand weiß millimetergenau, welche Geldvolumina in Anstrengung gebracht werden müssen, um den Folgen dieser Krise Herr werden zu können. Aber es wird eine teure Krisenbewältigung werden und hier braucht es wirklich energisches, koordiniertes, europäisches Vorgehen. Billig wird die Krisenbewältigung nicht. Aber wenn wir nicht die Gelder investieren, die investiert werden müssen, um die Wiederaufrichtung der europäischen Wirtschaft zu gewährleisten, wird im Endeffekt die Rechnung teurer ausfallen, als wenn wir jetzt das tun, was geboten ist.
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Münchenberg: Nun sind ja die sogenannten Corona-Bonds sehr umstritten, eine Vergemeinschaftung letztlich von Schulden. Die Forderung kommt aus Italien, kommt aus Spanien, auch aus Frankreich, aber ist offenbar nicht politisch durchsetzbar. Widerstände gibt es hier auch aus Deutschland, aus den Niederlanden. Braucht es diese Corona-Bonds unbedingt, oder sollte man nicht auf andere Finanzierungsinstrumente ausweichen, weil sie so umstritten sind?
Juncker: Ich bin eigentlich prinzipiell dafür, dass man zu einer teilweisen Vergemeinschaftung der Schuldenlast in Europa kommt. Dies passt einfach zu einer Währungsunion, die auch im internationalen Kontext beweisen muss, durch Tun und nicht nur durch Reden, dass sie auf Dauer eingerichtet ist. Aber ich hielte es für verfehlt, jetzt die Debatte auf die Corona-Bonds zu überkonzentrieren, weil selbst wenn man zu Corona-Bonds käme, brauchte es lange Monate, um dieses Instrument so aufzustellen, dass es wirksame Folgen entfalten kann.
Allein die Governance dieser Corona-Bonds zu organisieren, setzt viele Bedingungen voraus. Ich bin sehr dafür, dass man sich jetzt auf die Instrumente konzentriert, die die Europäische Union sich an die Hand gegeben hat: ESM, Europäische Investitionsbank, Co-Finanzierung der Kurzarbeit via europäische Geldmittel, ein Aufstocken des EU-Haushalts. Das scheint mir im Moment dringender geboten zu sein, als eine endlose Debatte über Corona-Bonds, für die ich im Prinzip bin, die ich aber angesichts der Konfliktatmosphäre, die diese Corona-Bonds umgibt, als ein nicht geeignetes Mittel in diesem Moment ansehe, um dieser Krise Herr zu werden.
"Andere Probleme nicht weggeschwemmt"
Münchenberg: Herr Juncker, Ungarn und Polen nutzen die Corona-Krise, um die demokratischen Rechte weiter auszuhebeln, auszuhöhlen. Muss Europa da stärker hinschauen?
Juncker: Generell gilt, dass diese Coronakrise andere Probleme, die es in der Europäischen Union gibt, nicht weggeschwemmt hat. Die Flüchtlingskrise, die gibt es noch. Die Klimakrise, die gibt es noch und die wird es immer geben. Unser Verhältnis zu Afrika, das wir neu ordnen müssen, besteht aus kurzfristigen Hausaufgaben weiter, und auch der notwendige Respekt vor den Rechtsregeln, siehe Polen, siehe Ungarn, ist ein Daueranliegen der Europäischen Union.
Und ich bin schon der Auffassung, Corona-Krise hin oder her, wissend, dass man sich jetzt nicht auf dieses Ungarn-Problem konzentriert und verlangt, dass die Kommission und die Mitgliedsstaaten Klartext reden. Es reicht nicht, in allgemeinen Beschreibungen sich mit dem notwendigen Respekt vor dem Rechtsstaat auseinanderzusetzen, ohne Ross und Reiter zu nennen. Man muss jetzt Ross und Reiter nennen!
Münchenberg: Das heißt, Sie wünschen sich schon klare Worte auch von der Kommission, auch von den Mitgliedsstaaten?
Juncker: Das wünsche ich mir allerdings. Ich hätte gerne, dass die Mitgliedsstaaten, die ja den Rechtsstaat wie eine Monstranz vor sich hertragen, nicht nur Sonntags jetzt deutliche Worte finden und Herrn Orbán in die Schranken weisen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.