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Nach Halbfinal-Aus bei der Fußball-EM
Eine heilsame Niederlage

Die Halbfinal-Niederlage - so schmerzlich sie sei - habe auch etwas Heilsames. Es brauche wieder mehr Demut im Land des Weltmeisters. Während der Europameisterschaft in Frankreich habe die Weltoffenheit der Deutschen eine Pause gemacht. Zeit, sie wieder zu finden, meint Philipp May.

Von Philipp May | 08.07.2016
    Die deutsche Fußballnationalmannschaft verliert im EM-Halbfinale gegen Frankreich. Mesut Özil trauert (7.7.2016).
    Enttäuschung nach dem Halbfinal-Aus bei der Fußball-EM (dpa / picture alliance / Peter Kneffel)
    Um es vorweg zu nehmen: Auch ich habe mir einen Sieg der deutschen Elf gewünscht. Schweinsteiger, Özil, Müller und Co. sind mir einfach, wie den meisten Deutschen, über die Jahre ans Herz gewachsen. Ich bin ein Fan dieser Mannschaft. Und dennoch: Diese Niederlage wird Schland nicht schaden. Im Gegenteil. Es ist ganz offensichtlich dringend an der Zeit gewesen für ein bisschen mehr Demut im Land des Weltmeisters.
    Denn der so genannte weltoffene Patriotismus, für den sich Deutschland seit der WM 2006 so gerne feiert, hat sich während dieses Turniers größtenteils eine Auszeit genommen. Zumindest der Teil mit dem "weltoffen".
    Nationalchauvinistische Ausfälle
    Da wird den Franzosen seit vier Wochen ganz genau vorgeschrieben, wie sie das künstlich aufgeblasene Event denn zu feiern haben. Nämlich total und viel mehr. Schließlich haben "wir" das doch vorgemacht beim Sommermärchen.
    Aber nicht nur da. Auch in Frankreich haben die Deutschen wieder bewiesen, was für tolle Feierbiester "wir" sind: Zum Beispiel, als der deutsche Block im Stadion zum stimmungsvollen "Scheiß Italiener"-Gegröle ansetzte. Im Viertelfinale noch aus Wut auf die gegnerische Mannschaft, die es wagte der DFB-Elf einen harten Kampf zu liefern. Im Halbfinale dann aus Wut über den angeblich parteiischen Schiedsrichter, der es wagte, einen völlig berechtigten Handelfmeter gegen die deutsche Mannschaft zu pfeifen.
    In den sozialen Netzwerken jammern des Nationalchauvinismus eigentlich unverdächtige Menschen darüber, dass man jetzt doch wieder wisse, was man an den guten deutschen, pardon "unseren" Schiris hat.
    Unangebrachte Betonung spielerischer Überlegenheit
    Vielleicht sollten sie einfach mal bei den Schweden nachfragen, wie die über Deutschlands EM-Schiedsrichter Felix Brych denken seit ihrem Aus bei der Euro.
    Überhaupt: Egal ob bei Facebook, Twitter oder Markus Lanz - überall wird betont wie spielerisch überlegen "wir" doch den anderen Nationen gewesen sind. Es wird über die skandalöse Ungerechtigkeit gegreint, dass das beste Team dieser EM jetzt nicht Europameister wird. Wo "wir" doch den Franzosen so klar überlegen waren.
    Dumm nur, dass das beste Team normalerweise auch ein bis zwei Stürmer hat, die sich nicht zu schade sind, bei all dem schönen Gepasse den Ball auch einfach mal ins Tor zu schießen. So wie die Franzosen, die nebenbei ihren besten Stürmer aus disziplinarischen Gründen gar nicht erst nominierten.
    Deutschland hat sich mit toller Partie verabschiedet
    Ich hätte mich sehr auf ein Finale Deutschland gegen Portugal gefreut, auf einen weiteren Abend zum mitfiebern und zittern. Und doch habe ich an diesem Spielausgang nichts auszusetzen. Deutschland hat sich mit einer tollen Partie verabschiedet. Frankreich hatte die Leidenschaft und ja, ein bisschen auch das Glück auf seiner Seite. So werden enge Spiele im Fußball nun mal meistens entschieden - durch Glück. Es wird gerne vergessen: Vor zwei Jahren im Viertelfinale von Rio rannten noch die spielerisch überlegenen Franzosen vergeblich einem 0:1-Rückstand gegen die deutsche Mannschaft hinterher.
    Von Gegreine und Genöle bei unserem Nachbarn war danach allerdings wenig zu hören. Frankreich hatte gerade erst eine fußballerisch dunkle Phase überwunden und war schlicht enttäuscht, aber auch stolz auf das Geleistete.
    Diese Demut fehlt derzeit hierzulande. Vielleicht kann da eine Halbfinalniederlage helfen. Oder anders gesagt: Die Nummer eins der Welt sind wir, doch in Europa nur die Nummer vier.