Samstag, 20. April 2024

Nach Neymar-Verletzung
Die Chance in der Krise

Das Gesicht von Brasiliens Mannschaft ist Neymar. Vielleicht sogar dessen Seele. Seine Verletzung versetzte sein Land in Wut und Resignation. Wenige Tage später ändert sich das aber schon wieder.

07.07.2014
    An ihm scheiden sich die Geister auch im verletzten Zustand - Brasiliens Neymar
    An ihm scheiden sich die Geister auch im verletzten Zustand - Brasiliens Neymar (dpa / Wenderson Araujo)
    Bislang, so war man sich eigentlich einig in Brasilien, war die WM ein voller Erfolg. Selbst die überwiegend konservativen Zeitungen schwärmten von der guten Stimmung im Land, den ausgelassenen Festen, den vielen Toren und auch von der im Großen und Ganzen reibungslosen Organisation. Nicht unwichtig für dieses Zwischenfazit war natürlich auch der Erfolg der brasilianischen Mannschaft. Denn so unsouverän sie vielleicht auch in einigen Spielen agiert hat (zum Beispiel gegen Mexiko oder Chile), so steht sie doch zumindest mal im Halbfinale.
    Sollte die Mannschaft jetzt in der Vorschlussrunde aber ausscheiden, kann sich alles drehen. Denn dann ist man gescheitert. Dann hat man die Weltmeisterschaft verloren. So sagt man es hier: "Perder a Copa." Wird man Weltmeister, gewinnt man ein Turnier. Wird man Vize oder gar nur Dritter oder Vierter, dann hat man gleich das ganze Turnier verloren.
    Aber jetzt ist sowieso alles anders. Jetzt kann man zwar immer noch Weltmeister werden, aber nur noch: ohne Neymar. Das Gesicht, die Seele der brasilianischen Selecao, nein, der gesamten WM ist verletzt. Den dritten Lendenwirbel hat er sich im Viertelfinale verletzt. Normalerweise drei bis sechs Wochen Pause. Auch wenn Neymar selbst laut der Tageszeitung Folha behauptet, nach einem möglichen Finaleinzug gegen Deutschland am Dienstag, im Endspiel wieder mitwirken zu können. So richtig glaubt das keiner.
    "Eine Katastrophe" nannte Cheftrainer Felipe Scolari den Ausfall Brasiliens. Die Tageszeitungen fanden es noch schlimmer und beschimpften und verfluchten gar den Verursacher dieser nationalen Katastrophe. Den kolumbianischen Abwehrspieler Zúñiga. Da half auch dessen schriftliche Entschuldigung einen Tag nach dem Spiel nichts mehr. Auch der Schiedsrichter Velasco Carballo aus Spanien musste medial viel einstecken.
    Auch in den sozialen Netzwerken echauffierte man sich über den kolumbianischen Übeltäter, drohte ihm sogar. Auf Twitter überschlugen sich die Beleidsbekundungen an Neymar. "Die WM mache keinen Sinn mehr", schrieb da einer. Ein anderer: "Die Welt ist so ungerecht. Ich fühle mit Dir, Neymar." Man kreierte ganze Themenseiten (#getwellsoonneymar) zur Unterstützung des brasilianischen Hoffnungsträgers. Darin waren auch die verschiedensten Verschwörungstheorien zu lesen. Der Schiedsrichter sei bestochen gewesen, von irgendeinem verbleibenden Halbfinalisten. Oder: Die Fifa sei schuld, schrieb ein User: "Sie will keinen Seriensieger Brasilien. Sie hat uns den sechsten Stern auf der Brust genommen." (Für jeden WM-Titel darf sich eine Mannschaft jeweils einen Stern auf das Trikot nähen. Brasilien hat bereits fünf.)
    Doch so mittlerweile scheint sich die Stimmungslage zu wandeln. Zumindest in den sozialen Netzwerken. Brasilien überwindet scheinbar langsam Trauer und erkennt in der Krise eine Chance. Manch einer dokumentiert den Ausfall Neymars sogar als Glücksfall. Denn jetzt könne man ganz ohne Druck in die Partie gegen Deutschland gehen. Auch wäre die DFB-Elf ohnehin zu stark gewesen. Verlöre man jetzt, sei die Schmach nicht ganz so groß. Gewänne man, so der Tenor, habe man es für Neymar getan. Verlöre man, habe man es wegen Neymar getan. Eine gute Ausrede also.
    Andere wiederum fassen Mut in ähnlichen Situationen in der Vergangenheit. Auch bei der WM 1962 in Chile ist der damalige Superstar der Brasilianer ausgefallen. Pelé musste bereits in der Vorrunde wegen eines Muskelfaserrisses passen. Brasilien wurde trotzdem Weltmeister. Nicht berücksichtigt wird in diesem Zusammenhang das Beispiel der WM 1966 in England. Auch hier fiel Pelé