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Nach Russland-Kritik
Historikerstreit um Gauck-Rede

Die Kritik an der Rede Joachim Gaucks zum 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen hält an. Nach scharfem Gegenwind vor allem von Linken-Politikern, knöpfen sich nun auch namhafte Historiker den Bundespräsidenten vor. Gauck-Biograf Johann Legner verteidigte die Rede dagegen im DLF.

Von Falk Steiner, Hauptstadtstudio | 06.09.2014
    Bundespräsident Joachim Gauck schaut sich am 13.06.2014 in Trondheim den Nidarosdom an.
    Bundespräsident Joachim Gauck steht wegen seiner Danziger Rede in der Kritik. (dpa picture alliance / Maurizio Gambarini)
    Am Montag sprach der Bundespräsident Joachim Gauck bei der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs, dem deutschen Angriff auf Polen: "Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern. Die Geschichte lehrt uns auch, dass aus unkontrollierter Aggression eine Dynamik entstehen kann, die sich irgendwann der Steuerung entzieht".
    Darf ein deutscher Bundespräsident sich so äußern? Kritik kam vor allem von Politikern der Linken. Doch ist Gaucks Anspielung auf die Appeasement-Politik des damaligen britischen Premiers Neville Chamberlain, der noch vor dem zweiten Weltkrieg die kleineren Territorialgelüste des Deutschen Reiches zugunsten des Friedens in Europa akzeptierte, historisch zulässig? Über Gaucks Rede streiten nun nicht mehr nur Politiker, sondern auch die Historikerzunft.
    "Putin ist nicht Hitler", so die Historikerin Ute Frevert heute in der "Süddeutschen Zeitung". Gauck habe gar weiteres Öl ins Feuer gegossen, in dem er auf der Westerplatte in Gdansk, einst Danzig, kein Wort über den nahtlosen Übergang des Angriffs auf Polen in den späteren Überfall auf die damalige Sowjetunion verlor, sagt Jochen Hellbeck, Historiker an der Rutgers University in New Jersey.
    "Wenn man nicht sagen darf, was man gelernt hat, oder das Gelernte nur für die Deutschen, sonst aber niemanden gilt, dann hat man tatsächlich nichts gelernt", meint hingegen der Berliner Konflikthistoriker und Ideengeschichtler Herfried Münkler. Eine "beruhigende Gewissheit" sei es, so sieht es der Historiker Karl Schlögel, dass Bundespräsident Gauck beim Gedenken an den Überfall der Deutschen auf Polen 1939 auch das Heute nicht vergesse. Ohne historische Bezüge sei der Ukraine-Konflikt besser zu verstehen, sagt hingegen der Freiburger Geschichtswissenschaftler Ulrich Herbert.
    Legner im DLF: "Gauck ist seiner Rolle gerecht geworden"
    Dass die Rede auf der Westerplatte in Deutschland für eine Debatte sorge, überrascht Johann Legner, Autor einer neuen Biografie über den Bundespräsidenten und früherer Mitarbeiter Gaucks, nicht: "Er weiß ganz genau, dass die Polen diesen Kriegsbeginn anders reflektieren als viele Deutsche und ich denke, er ist da seiner Rolle als Gast auch gerecht geworden und hat weniger die deutsche Öffentlichkeit als die polnische im Auge gehabt."
    Für die Polen sei der Ausbruch des zweiten Weltkrieges nicht nur mit dem Angriff der Deutschen, sondern auch mit dem Hitler-Stalin-Pakt und der Nachkriegsgeschichte unter sowjetischer Herrschaft verbunden. Gaucks eigene Biografie, die ihn oft nach Danzig geführt habe, hätte ihn für die polnische Geschichte sensibilisiert, so Gauck-Biograf Legner heute Morgen im Deutschlandfunk.