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Nachrichten aus einer unbekannten Welt

Biologie. - Die Riesenkalmare der Tiefsee gehören zu den sagenumwobenen Vertretern ihrer Ordnung. Außer ihren Schnäbeln kennt man kaum etwas von ihnen. Tsunemi Kubodera jedoch, vom japanischen Nationalmuseum für Natur und Wissenschaft, hat sie bereits mehr als einmal in Aktion gesehen.

Von Jenny von Sperber | 09.12.2010
    "Das sind alles Tintenfischschnäbel verschiedener Arten. Diese hier sind alle im Magen von Thunfischen gefunden worden. Dieser Schnabel hier ist vom pazifischen Kalmar. Na ja, es sind so viele. Unzählbar!"

    Es ist eine der größten Tintenfischschnabelsammlungen der Welt, die der Zoologe Tsunemi Kubodera in Tokio aufgebaut hat. Ordentlich nach Fundort sortiertet lagern in durchsichtigen Röhrchen Zehntausende von Schnäbeln, die ähnlich aussehen wie Papageienschnäbel. Einige sind nur wenige Millimeter groß, andere dick wie eine Faust. Mit Hilfe der Schnäbel kann der Forscher die Größe des Tintenfischs berechnen, zu dem der Schnabel mal gehörte. Jetzt öffnet Kubodera ein Röhrchen, nimmt zwei Schnabelhälften heraus und hält sie direkt übereinander. So saßen sie zwischen den Armen des Tintenfischs.

    "Dies sind der obere und der untere Schnabelteil. Genauso wie wir Ober- und Unterkiefer haben. Und so zerschneiden sie ihre Beute. So gehört das zusammen und dann ist alles von starken Muskeln umgeben, so dass sie kräftig zubeißen können."

    Dann fischt er noch etwas kleines Weiches aus dem Glas und rollt es vorsichtig auf.

    "Die Zunge. Die kommt dazwischen. Sie können die vielen kleinen Zähne auf der Zunge sehen. Sieben Reihen von scharfen Zähnen. Damit zermalmt er seine Beute. Soviel zum Fressverhalten von Tintenfischen."

    Soviel ist klar. Zumindest für Tintenfische aus den oberen Wasserschichten, die man beobachten kann. Kubodera aber interessiert sich für das Jagdverhalten eines ganz besonderen Tintenfischs, über den bisher so gut wie nichts klar ist: Der Riesenkalmar der Tiefsee. Auch von ihm hat man zwar schon Schnäbel gefunden: In Mägen von Pottwalen, die für die Jagd über 1000 Meter tief tauchen. Demnach muss es tatsächlich Riesenkalmare geben, die inklusive Fangarme etwa 18 Meter lang werden. Auch werden immer mal wieder Teile von Tieren aus den Tiefen des Japanischen Meeres an die Küste geschwemmt und sorgen für Schlagzeilen in den lokalen Zeitungen. Aber: Über das Verhalten der Tiere weiß man bisher kaum etwas.

    "In der Tiefsee sieht man ja nichts. Wir können uns nur vorstellen, was dort unten vorgeht. Nur aus dem Mageninhalt von Pottwalen, die auf Jagd in die Tiefe tauchen können wir schließen, dass es sehr viele Tintenfische in dieser Tiefe geben muss. Aber wirklich beobachten kann man ihre Lebensweise da unten nicht."

    Genau das ist Tsunemi Kuboderas großes Ziel. Deshalb fährt er jedes Jahr ein paar Tage auf Expedition und versucht, Tiefseetintenfische mit Hilfe spezieller Tiefseekameras in ihrem Lebensraum zu fotografieren. Oft ohne Erfolg. Doch 2004 schoss er mit einer Kamera, die er 900 Meter in die Tiefe hinabließ und auf einen Köder richtete, die ersten Fotos eines lebendigen Riesenkalmars. Der attackierte zur Überraschung der Forscher mehrere Stunden lang die Beute. Bis dahin hatte man vermutet, dass sich Tiefseetintenfische in ihrem kalten Lebensraum nur langsam und energiesparend bewegen, eher dahin treiben. Kuboderas Beobachtungen aber zeigten, dass Tiefseetintenfische schnelle, behände Jäger sind. 2006 folgte ein noch größerer Erfolg: Kubodera war der erste und bisher einzige Forscher, der einen lebenden Riesenkalmar filmen konnte: Mit einem Köder hatte er ihn an die Wasseroberfläche geholt.

    "Ich war überrascht, als der riesige Tintenfisch vor meinen Augen erschien. Und dass er sich noch bewegt und mit was für einer Kraft er viel Wasser spritzt und die riesigen Augen! Ich war wirklich überwältigt."

    Der Tintenfisch hatte die Reise an die Wasseroberfläche überlebt, denn Riesenkalmare haben keine gasgefüllte Schwimmblase, die sich bei Druckentlastung ausdehnt und ausquillt, wenn man sie an die Wasseroberfläche holt. Statt dessen bekommen sie ihren Auftrieb durch Ammoniumionen im Gewebe. Das Interesse Japans an den sonderbaren Riesen der Tiefsee ist groß. Allerdings sehen die Japaner sie nicht als gefährliche und sagenumwobene Tiefseemonster wie wir. Sie kennen solche Legenden nicht.

    "Japaner sehen Tintenfische eher als Meeresfrüchte denn als Monster. Wenn Japaner am Strand einen großen Tintenfisch finden, dann denken sie als erstes: Wie viele Stückchen Sushi könnte man daraus machen!"


    Allerdings wäre ein Riesenkalmar wegen der Ammoniumionen ungenießbar. Tsunemi Kubodera fährt trotzdem wieder auf Expedition. Auch, wenn er sein Forschungsobjekt jahrelang nicht zu Gesicht bekommt. Gerade das Rätselhafte reizt den Zoologen. Und so wechselt er vor lauter Enthusiasmus in seine Muttersprache:

    "Die Tiefsee ist eine Welt, die wir noch so gut wie gar nicht kennen. Oder anders gesagt: Vergleicht man die Tiefseeforschung mit der Weltraumforschung, dann weiß man über die Tiefsee weniger!"

    Hinweis: Der Beitrag ist Teil eines Schwerpunkts über Japanische Forschung. Lesen Sie mehr dazu auf unserer Überblicksseite.