DDR-Innenansicht

"Viele Dinge, die nicht funktionierten"

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Der Schriftsteller und Autor Landolf Scherzer © picture alliance / dpa / Michael Reichel
Moderation: Nana Brink · 07.11.2014
Der Autor Landolf Scherzer verfasste Hintergrund-Reportagen über den zunehmend desolaten DDR-Staat und den Parteiapparat. Er habe noch bis 1989 gedacht: Wenn man ein paar Dinge ändere, - Reisefreiheit, Pressefreiheit, viele andere -, "dann ist der Sozialismus machbar".
Nana Brink: Am 7. November 1989 war das, also vor 25 Jahren, da hat Regierungssprecher Wolfgang Meyer den Rücktritt der DDR-Regierung verkündet. Und wir haben es gehört, er hat ja die Menschen aufgerufen, im Lande zu bleiben, denn die Flucht der Menschen, das wird in vielen Betrieben spürbar, in vielen Betrieben fehlen die Arbeiter, in Krankenhäusern mangelt es sogar an Ärzten und an Pflegepersonal. Einer, der das ganze Ausmaß dieser maroden DDR und die Verzweiflung auch vieler SED-Funktionäre nicht nur gesehen, sondern auch beschrieben hat, ist der Schriftsteller Landolf Scherzer. Sein Buch "Der Erste" beschreibt einen kleinen SED-Kreissekretär, der sich redlich bemüht, den Laden am Laufen zu halten. Das Buch war ein Renner und erschien Anfang 1989. Guten Morgen, Herr Scherzer!
Landolf Scherzer: Einen schönen guten Morgen!
Brink: Sie haben in diesem Buch sehr ausführlich beschrieben, wie kaputt dieser Staat war schon in den 80er-Jahren, also vor dem Mauerfall. Haben Sie den Zusammenbruch kommen sehen?
Scherzer: Nun, dann hätte ich nicht so ein Buch geschrieben. Das wäre dann ein anderes wohl.
Brink: Also Sie haben es nicht gesehen. Aber Sie haben schon gesehen, in welcher desolaten Lage die DDR war?
Scherzer: Ja, aber ich meine, wir haben ja alle unsere Schwierigkeiten, die es überall gab, die hat ja jeder gesehen. Es hat jeder so sein ganz kleines Detail gesehen, aber ich habe dann zum ersten Mal in einem größeren Blickwinkel, nämlich von einem ersten Kreissekretär – je höher es ging, umso mehr Informationen auch von Dingen, die nicht funktioniert haben, erhielt man ja. Und da habe ich zum ersten Mal gemerkt, wie komplex eigentlich die Dinge sind, dass es also nicht nur die Schlaglöcher auf der Straße sind oder die Bettwäsche, die es dann mal nicht gab, sondern dass es eigentlich sehr, sehr viel mehr Dinge sind, die nicht funktionieren. Aber um Ihnen das vorneweg zu sagen, ich habe also einfach die Dinge nicht richtig zusammenzählen können. Günter Wallraff, mein Freund, hat mir mal gesagt, weißt du, Landolf, du warst in Mathe bestimmt schlecht. Ich sag, wieso? Man hätte es nur ordentlich zusammenzählen müssen, alle Details, dann wäre herausgekommen, der Sozialismus geht nicht. Und bei mir ist nur rausgekommen, wir müssen den Sozialismus besser machen.
Niemand konnte Dinge grundlegend ändern
Brink: Also haben den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen?
Scherzer: Ja, man sieht ja manchmal den Wald, aber man denkt, na gut, du musst ja nicht gleich alle Bäume fällen, vielleicht kann man einige fällen, damit der Borkenkäfer nicht den ganzen Wald auffrisst, aber der Wald sollte trotzdem weiter bestehen.
Brink: Welche Borkenkäfer haben Sie denn gesehen, was hat Sie so überrascht bei Ihren Recherchen?
Scherzer: Die Überraschung war wirklich, dass die Dinge zwar von Einzelnen erkannt wurden, aber die Möglichkeiten, sie zu ändern, einmal nicht da waren, ökonomisch nicht da waren, und zum Zweiten ideologisch nicht da waren. Die strengen Grenzen der Partei waren so geschnitten, dass also niemand eigentlich die Dinge grundlegend ändern konnte, und deswegen hat das also nicht funktioniert, denke ich mir.
Brink: Aber ich habe mich schon gefragt, als ich das Buch noch mal in der Hand gehabt habe, wie konnten Sie das eigentlich schreiben. Wie konnte das sein, dass man Sie hat in die Karten gucken lassen? Also, dieser eine SED-Kreissekretär?
Scherzer: Ich habe acht Jahre darum gekämpft. Ich habe acht Jahre immer wieder denselben Antrag gestellt. Als die Genossen da waren, wie können wir die Schriftsteller stützen – ich habe denen immer wieder gesagt, ich wollte also keine Winterreifen für meinen Trabi, ich wollte unbedingt einen ersten Kreissekretär begleiten, um hinter die Strukturen schauen zu können. Und dann war die Zeit einfach gekommen, Sie erinnern sich, Gorbatschow, Perestroika und vieles andere, sodass es also auch innerhalb der führenden Genossen wohl Unterschiede gegeben hat in der Meinung. Und man sagte, gut, jetzt soll er das tun, um nach außen auch zu zeigen, dass wir offen sind für viele Probleme.
Sozialismus ist machbar
Brink: Sie haben also das ganze Ausmaß gesehen – dachten Sie, das kann man ändern?
Scherzer: Ja. Ich habe immer gedacht, es funktioniert, wenn man andere Leitungsmethoden anwendet, wenn man die Dinge wirklich beim Namen nennt. Man kann ja nur irgendwas verändern, indem man die Dinge wirklich beim Namen nennt. Das haben wir nie getan. Das war ja bei uns schon strafbar, wenn man nur die Realität genau bezeichnete. Und deswegen habe ich gedacht, wenn man das ändert und dazu ein paar Dinge, für die wir immerzu waren, Reisefreiheit, Pressefreiheit, viele andere, dann ist der Sozialismus machbar als Alternative zum Kapitalismus.
Brink: Dann hat Sie also der 9. November, also der Mauerfall, doch überrascht?
Scherzer: Nein, der hat mich nicht überrascht. Ich war vorher also abgehauen aus der DDR. Ich war in die Sowjetunion abgehauen, um mein Buch "Perestroika" zu schreiben und habe den 9. November dann am Abend erst, den nächsten Tag erlebt in einer Bauarbeiterunterkunft in Kamyschin vor einem Fernsehen, der keinen Ton hatte. Die Tagesschau kam da, und die Zeilen liefen nach unten, und da sah ich auf einmal, nichts wissend, was eigentlich in der DDR passierte. Die Mauern, wo Leute oben Fahnen schwenken und Sekt trinken. Da konnte man schon verstehen – und überhaupt nichts sagen.
Brink: Aber war Ihnen klar, das war es jetzt?
Scherzer: Ich weiß nicht, ob mir das damit schon klar war. Ich habe erst mal die letzte Flasche Wodka ausgetrunken. Und als ich dann zurückkam, war es mir erst klar. Ich bin also nach vier Wochen, fünf Wochen – vier Wochen noch dort geblieben, und als ich dann zurückkam, war es klar.
Inflation der Staatsfeiertage
Brink: Nun sind wir ja gerade von Gedenkfeiern rund um 25 Jahre Mauerfall geradezu umzingelt, geht uns ja hier im Deutschlandradio auch nicht anders, aber viele Menschen, das höre ich zumindest manchmal, sind dieses Jubiläums überdrüssig. Können Sie das verstehen?
Scherzer: Ich denke, nicht des Jubiläums. Ich denke schon, dass man sich daran erinnern möchte, einfach diese, ich nenne es mal, nachgemachte DDR-Agitation – wir kennen das ja nun schon. Und in solch einem Überdruss wurden früher die Staatsfeiertage gefeiert. Das macht die Menschen dann einfach – dass man es nicht essen will mehr.
Brink: Aber es ist jetzt schon wichtig, dass wir uns daran erinnern.
Scherzer: Ja, dran erinnern, aber ich meine, wenn man in der Zeitung jeden Tag es auf jeder Seite liest und im Radio jeden Tag, dann kommt es zu einer Inflation und damit zu einer Entwertung.
Brink: Aber Sie hätten wir jetzt nicht missen wollen. Herzlichen Dank, Landolf Scherzer, für Ihre Zeit und Ihre Einschätzungen! Alles Gute!
Scherzer: Danke!
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