Menschenrechte

Gerechtigkeit ist keine Pfadfindertugend

Die "Justitia", Göttin der Justiz und der Gerechtigkeit, steht auf dem Gerechtigkeitsbrunnen in Frankfurt am Main.
Die "Justitia", Göttin der Justiz und der Gerechtigkeit, steht auf dem Gerechtigkeitsbrunnen in Frankfurt am Main. © picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt
Von Jochen Stöckmann · 26.04.2015
Was genau bedeutet Gerechtigkeit heute? Das sollte die "Gerechtigkeitswoche" der Friedrich-Ebert-Stiftung herausfinden. Dabei kam heraus, dass es um weitaus mehr geht als verfassungsrechtliche Grundsatzfragen.
Unter einer "Gerechtigkeitswoche", wie sie die Friedrich-Ebert-Stiftung jetzt zum wiederholten Male organisiert hat, kann man sich einiges vorstellen: Tätiges Streben nach Gerechtigkeit etwa, also von moralischen Prinzipien initiiertes Handeln, die tägliche "gute Tat". Aber die ist eher etwas für Pfadfinder – und mit diesen wimpel- und halstuchtragenden Tugend-Scouts längst ausgestorben.
Außerdem denkt eine SPD-nahe Stiftung natürlich viel weiter, handelt politisch. Es geht – nicht nur eine Woche lang – um Beseitigung struktureller "Gerechtigkeitslücken", um weltweite Verteilungsgerechtigkeit und um Nachhaltigkeit. Ja, auch der schonende Umgang mit Ressourcen führt zu Gerechtigkeit, in diesem Fall gegenüber kommenden Generationen.
Vor allem stehen derzeit die Menschenrechte im Vordergrund. Nicht, weil da jemand mal wieder ins Grundgesetz geschaut hat, Artikel 1, Absatz 2: Menschenrechte als Grundlage der Gerechtigkeit – in der Welt! Bei diesem globalen Anspruch wäre es kein Wunder, dass sich Vertreter unzähliger Vereine, Stiftungen, Zusammenschlüsse am Rednerpult abwechselten, allein dem deutschen "Forum Menschenrechte" gehören 55 Vereinigungen an.
Gerechtigkeitschinesisch
Typisch deutsch: Gerechtigkeit will organisiert sein, etwa im Außenministerium. Von dort kam ein Abteilungsleiter, der die "Federführung" in Sachen Menschenrechte für sein Amt reklamiert. Der deshalb möglichst viel "outreach" mit möglichst allen "stakeholdern" erreichen möchte. Der bei Themen wie "respect" und "remedy" erst einmal ein "human rights impact assessment" vorschlägt.
Viel Gerechtigkeitschinesisch also zu einer an sich klaren Sache, die derzeit in vielen Staaten auf der Tagesordnung steht: die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte.
Die beruhen im Grundsatz auf einem philosophischen Problem: dem "gerechten Preis", den Theologen wie Ökonomen seit dem Mittelalter ausfindig zu machen, zu erreichen versuchen. Bei diesem komplizierten Austarieren geht es heute, im Zeitalter der Globalisierung, um unendlich mehr Faktoren als bei den Kirchenvätern oder Adam Smith.
Aber in der Sozialdemokratie, so denkt der Laie, wird dieser Prozess immer unter dem alles überwölbenden und die praktische Politik letztlich bestimmenden "Prinzip Gerechtigkeit" stehen.
Manch einer erinnert sich noch an Festtagsreden mit Schalmeienklang und Mandolinenbegleitung, roten Erste-Mai-Nelken zum Kant-Zitat. Bis dann Helmut Schmidt zu Karl Popper griff und schließlich die Philosophen-Anleihen in SPD und Gewerkschaftskreisen im Kurs sanken.
Der Grundsatz des Guten Lebens
Nun aber naht Rettung, und zwar aus Lateinamerika. Alberto Acosta heißt der in ethischen Grundsatzfragen versierte Ökonom, der als Energieminister und Präsident der verfassungsgebenden Versammlung dafür gesorgt hat, dass der Grundsatz des "Guten Lebens" – Buen Vivir" –2008 in der Verfassung Ecuadors verankert wurde. Der Mann spricht exzellentes Deutsch, sein Buch "Buen Vivir: Vom Recht auf ein gutes Leben" ist sehr verständlich übersetzt – und er präsentierte es zu den Klängen einer lateinamerikanischen Band.
Derart mitreißend, dass der Zuhörer sich fragte: Geht es hier nun um verfassungsrechtliche, von umständlich formulierenden Experten betulich aufgedröselte Grundsatzfragen oder nicht doch ganz einfach um ein anderes Lebensgefühl? Schließlich sprechen sogar unsere direkten Nachbarn, die Franzosen, im Unterschied zu "la justice", der Gerechtigkeit, in Verbindung mit Recht und Gesetz gerne auch vom "sentiment d'équité", von Gerechtigkeit oder Rechtschaffenheit als subjektivem Gefühl, als Sache des individuellen Charakters. Auch das deutsche Wort "gerecht" bedeutete einmal "gerade, geradlinig, richtig und angemessen".
Was ist davon noch geblieben bei all den professionellen, verbeamteten "Akteuren", die die Podien und auch das Publikum dieser "Gerechtigkeitswoche" dominierten? Zumeist, so der bestimmende Eindruck, waren es junge Akademiker, Experten in Sachen Menschenrechte, Entwicklungshilfe, fair trade, die nach Jobs Ausschau halten oder eben ihre erste Anstellung haben, richtiger wohl: einen befristeten Vertrag.
Für sie ist "Gerechtigkeit" keine Pfadfindertugend, sondern Grundlage der beruflichen Karriere. Was persönliches Engagement ja nicht ausschließt, sondern – hoffentlich – voraussetzt.
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