Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Projekt "Soziale Stadt" in Thüringen
Vertrauen in linke Sozialpolitik erschüttert

Mit dem Projekt "Soziale Stadt" sollen Menschen in sozialen Brennpunkten unterstützt werden - mit Ferienangeboten für Kinder, Hausaufgabenhilfe und Altentreffs. Der thüringische Ort Sömmerda hat von den Geldern bisher auch profitiert. Das scheint aber bald vorbei zu sein. Die Menschen werfen der linken Bauministerin Birgit Keller nun vor, unsozial zu handeln.

Von Henry Bernhard | 07.05.2015
    Sieben Kindergartenkinder wuseln durch den schmalen Gang zur Töpferwerkstatt. Eine Woche lang haben sie mit ihren Händen eine Blüte und eine Schnecke geformt und sie im Brennofen gebrannt. Heute soll die Glasur auf die kleinen Kunstwerke.
    "So, wir nehmen das Schälchen und stellen es auf das Tuch. Wer weiß noch, was wir jetzt machen wollen?" - "Anmalen!" - "Richtig! Und wie heißt das richtig?" - "Tupfen!" - "Glasieren, ja!? So, ihr sucht euch jetzt mal eine Farbe aus."
    Marina Vater leitet die "Ludothek" in einem Plattenbauviertel in Sömmerda, einer Kleinstadt nördlich von Erfurt. Die ursprüngliche Idee der Ludothek war vor 20 Jahren, Spiele für Kinder und Familien anzubieten, zum Hier-Spielen, auch zum Ausleihen und Mitnehmen. Aber daraus ist viel mehr geworden: Auf 1.000 Quadratmetern können Kinder jeden Alters ihre Freizeit verbringen, nach dem Kindergarten, der Schule, auch in den Ferien. 5.000 Kinder kamen im vergangenen Jahr. Neben Marina Vater ist noch Petra Helbing beim Ludothek-Verein angestellt, der gerade in diesem sozial schwierigen Stadtteil von Sömmerda Kindern einen Ort bieten möchte, wo sie sicher und umsorgt sind und pädagogisch betreut werden - jenseits von Vernachlässigung und Computerspielen.
    "Wir hatten mal ein kleines Mädchen, die hat zum Teil nicht in ganzen Sätzen gesprochen. Die ist gekommen: 'Hunger!', 'Durst!'. Das waren ihre Worte. Und dann haben wir sie eben soweit gekriegt, dass sie auch 'bitte' sagt und in ganzen Sätzen reden kann. Also, das ist schon schwierig. Und es tut einem auch ein bisschen weh. Man ist ja schließlich selber auch Mutter gewesen - oder immer noch Mutter!"
    Schon ein kurzer Gang mit Petra Helbing über die drei Stockwerke und ein paar Geschichten von verhaltensgestörten, aggressiven Kindern machen klar, wie wichtig die Arbeit der beiden Frauen ist. Sie spielen, basteln, malen, töpfern, werkeln, feiern und wandern mit den Kindern, die oft aus zerrütteten Familien kommen. Aber ihre Ludothek ist bedroht: Noch anderthalb Jahre werden ihre Stellen durch das Bundesprojekt "Soziale Stadt" gefördert. Dann ist Schluss, sagt die Thüringer Infrastruktur-Ministerin Birgit Keller - eine Linke.
    "Na, es kommt darauf an, welche Aufgabe das Personal hat. Wenn das Personal eine Aufgabe fortsetzt, die sich auf das alte Modellprojekt bezogen hat, dann ist das nicht dem Förderprogramm entsprechend."
    Das Förderprogramm "Soziale Stadt" soll "durch soziale Missstände benachteiligte Ortsteile" stabilisieren und aufwerten. Der Haken an dem Programm, das vom Bund finanziert und von den Ländern umgesetzt wird, ist die Abhängigkeit vom Bauen: Nur, wenn etwas investiert, also gebaut wird, können auch "nichtinvestive Mittel" - zum Beispiel für Personal - ausgegeben werden. Die Ludothek in Sömmerda aber steht schon, eine aufwendig sanierte ehemalige Kinderkrippe. Heike Hopfer-Arnold ist Vorstandsvorsitzende des Fördervereins der Ludothek.
    "Seitdem es das Programm 'Soziale Stadt' gibt, wird sie gefördert, die Ludothek. Ja, das ist natürlich ganz schwierig für uns. Wir haben eigentlich erwartet, dass sich das alles ändert mit der rot-rot-grünen Regierung und sind sehr enttäuscht. Dass das alles hier gehalten werden kann und dass auch für Personalkosten Geld ausgegeben werden kann - denn was nützen uns leere Räume? Das ist alles hier neu gebaut worden! Wenn das alles leer ist, war alles umsonst! Und die Kinder fallen ins Leere."
    Vertrauen der Bürger in linke Politik erschüttert
    Insgesamt betrifft es allein in Sömmerda sieben Projekte mit insgesamt zwölf Stellen, die sich um Hunderte Klienten kümmern, in der sozialen Arbeit, der Altenbetreuung, bei der Tafel. Joachim Stopp kennt als Vorsitzender der Kreis-LIGA der Freien Wohlfahrtspflege die Situation in der Stadt und hat sich protestierend an das Infrastrukturministerium gewandt.
    "Ich weiß auch nicht, ob die das überblicken. Die Konsequenzen, die ziehen wir hier vor Ort. Da ist Erfurt weit weg. Dass man so die Not, die mittelbare Not, die daraus resultiert, wenn das wegfällt, dass man die nachvollziehen kann oder auch will. Und ich möchte auch noch mal darauf hinweisen: Wenn man einmal so einen Kahlschlag gemacht hat: Die Qualität wieder hochzuziehen, also das Potenzial an Kompetenzen bei den Mitarbeitern und die Erfahrungen, die die auch gewonnen haben in den letzten 20 Jahren, selbst wenn man das nach ein, zwei Jahren wieder hochziehen wollte, dann sind die Mitarbeiter weg; das ist schwierig."
    Die Ministerin jedoch sagt, dass sich nichts an den Vergaberichtlinien der "Sozialen Stadt" geändert hat und wähnt sich auf der Seite der Protestierenden. Muss sie ja auch als Linke.
    "Man kann ja in so einem Förderprogramm nicht machen, was man will. Man kann in anderen Programmen gucken, wo man vielleicht auch noch Zufinanzierung gibt vonseiten unterschiedlicher Ministerien. Das selbstverständlich. Ansonsten kann man aber nicht sein eigenes Programm sozusagen stricken. Aber solche Projekte sind notwendig und müssen gefördert werden. Sie sind vielleicht beim Bauministerium nicht ganz richtig angesiedelt."
    Da aber widerspricht Heike Hopfer-Arnold. Sie meint, "dass es in Thüringen sehr restriktiv gehandhabt wird. In anderen Bundesländern sieht man das anders; und da werden die Mittel auch anders eingesetzt."
    Ministerin Birgit Keller setzt damit die Politik der alten schwarz-roten Landesregierung fort, Personal nur noch ausnahmsweise zu fördern. Und das, wo doch die rot-rot-grüne Koalition in ihrem Koalitionsvertrag ausdrücklich darauf hinweist, dass im Programm "Soziale Stadt" "auch nicht-investive Maßnahmen zur Begleitung von Investitionen" ermöglicht werden sollen. Nur: Was, wenn nichts mehr investiert wird, weil in Sömmerda eher Häuser abgerissen als gebaut werden?
    "Ich meine: Das Einzige, was jetzt noch gefördert wird, ist das Quartiersmanagement. Aber was will das Quartiersmanagement, wenn es keine Institutionen mehr gibt!? Dann brauchen wir auch kein Quartiersmanagement mehr."
    Der Koalitionsvertrag ist damit noch nicht gebrochen. Aber das Vertrauen der Bürger in eine linke, soziale Politik durchaus erschüttert. Es scheint, dass es leichter ist, soziale Wohltaten zu fordern, als sie zu verteilen.