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Schlüsselübergabe am Hamburger Institut für Sozialforschung
Der Abschied Jan Philipp Reemtsmas

Seit 30 Jahren ist es eine der besten Adressen für unabhängige Wissenschaft: das Hamburger Institut für Sozialforschung. Ein Haus, das sich seit seinen Anfängen um die Aufarbeitung von Gewalt, Krieg und anderen sozialpolitischen Konflikten verdient gemacht hat. Heute hat sich Jan Philipp Reemtsma als Direktor des Instituts verabschiedet.

Von Axel Schröder | 05.06.2015
    Jan Philipp Reemtsma spricht am 09.02.2014 im Thalia-Theater in Hamburg bei der Verleihung der Lessing-Preise.
    Jan Philipp Reemtsma (hier bei der Verleihung der Lessing-Preise 2014) (picture-alliance / dpa / Bodo Marks)
    Es war keine große, festliche Veranstaltung, ohne Fernsehkameras, mit nur ganz wenigen Journalisten im Publikum. Ein bescheidener Rahmen für die Abschiedsfeier eines bescheidenen, zurückgenommenen Jan Philipp Reemtsma, für den es in erster Linie um das Argument, um intellektuelle Schärfe, um präzise Wissenschaft geht und so gar nicht um mediale Aufmerksamkeit. Als Einstieg wählte Jan Philipp Reemtsma eine Szene aus Thomas Manns Buddenbrooks:
    "Es war drei Uhr nachmittags. Plötzlich wurde Rufen und Schreien vernehmbar. Ein Lärm, der sich näherte und anwuchs. Mama, was ist das?, sagte Clara, die durchs Fenster blickte. All die Leute... Was haben sie?"
    Die aufmüpfige Menge in den Straßen Lübecks, ihre Steinwürfe auf die Herrschenden stehen für Reemtsma sinnbildlich für die vielen Ausbrüche von Gewalt in der Geschichte. Gestern auf den Straßen des deutschen Kaiserreichs, in den 70er-Jahren dramatisch auf die Spitze getrieben durch die Mordanschläge der Roten Armee Fraktion. Heute als Ausschreitungen in den französischen Vorstädten oder - ganz aktuell - im Terror des Islamischen Staates. Die Erforschung der Gewalt stand und steht für Jan Philipp Reemtsma immer im Zentrum seiner soziologischen Forschung. 1952 geboren gehört er genau zu der Generation, die sich nicht abfinden wollte mit den beschwichtigenden Antworten auf alle Fragen zur Vergangenheit der eigenen Eltern, der Mitbürger im nationalsozialistischen Deutschland.
    Und mit der unter seiner Federführung entstandenen Ausstellung über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht setzte er eine intensive, heftige und Jahre andauernde Debatte in Gang. Wer heute bei seinem Vortrag unter der Überschrift "Gewalt als attraktive Lebensform" Antworten darauf erwartete, warum die Gewalt in die Welt kommt, der wurde allerdings enttäuscht. Reemtsma warnt vor allzu einfachen Antworten:
    "Also sind die urban riots doch wahrscheinlich Rebellionen 'Zu-kurz-Gekommener'. Irgendwie ein, wenn auch ungelenk vorgetragener Schrei nach Gerechtigkeit und Liebe! Wenn sie nur nicht so ritualisiert abliefen... Wenn sie sich nicht nur auf ein Kalenderstichwort hin versammeln würden wie der Karnevalsverein. 'Heraus zum 1. Mai!' Was dann heißt: Autos anzünden oder Stereoanlagen abschleppen oder 'Bullen klatschen'. Es ist die Selbstermächtigung zum großen 'Du darfst'."
    Wissenschaftler sollen keine Erklärungen für Gewaltphänomene liefern
    Dazu kommt: Der persönliche Gewinn, zur bürgerlichen Gesellschaft zu gehören, ist heute verschwindend gering. Demgegenüber bietet die Räuberbande, so Reemtsma, die Zugehörigkeit zu einer klandestinen Gruppe, dem Individuum fast grenzenlose Möglichkeiten, grenzenlose Anerkennung der anderen Gruppenmitglieder:
    "Die RAF okkupiert Nachrichtensendungen und Fantasien, stürzt die Regierung in Krisen, gewinnt Macht über Leben und Tod und richtet hin. Der IS bietet Mord und/oder Tod, die Leute kommen aus aller Herren Länder, um mittun oder doch wenigstens zusehen zu dürfen, wie ohne all dies ewige Bedenken geköpft, gekreuzigt, verbrannt werden darf und sogar soll."
    Als Erklärung für Gewaltausbrüche will Jan Philipp Reemtsma diese Gedanken nicht verstanden wissen. Er warnte heute ausdrücklich davor, als Wissenschaftler Erklärungen für Gewaltphänomene liefern zu wollen. Konsequent sei es dagegen, sich auf ihre möglichst exakte Beschreibung zu beschränken.
    Nach 30 Jahren an der Spitze des Hamburger Instituts für Sozialforschung verabschiedete sich Jan Philipp Reemtsma heute so, wie man es erwarten konnte. Mit einer Kostprobe seines Könnens. Und einem bescheidenen und kurzen Schlusswort:
    "Ich danke Ihnen sehr für Ihr Interesse an diesem Vormittag. Es ist das Interesse an diesem nunmehr 30 Jahre existenten Institut. Und - ja - Sie verabschieden mich hier und das rührt mich und dafür möchte ich mich bedanken!"