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Nachruf: Gérard Mortier
Moderner Mittler des Musiktheaters

Gérard Mortier war ein Erneuerer des Opernbetriebs. Er arbeitete unermüdlich und hochdiszipliniert, nahm dabei kein Blatt vor den Mund und ging keiner Konfrontation aus dem Weg. Seine Leidenschaft und Liebe für Kunst und Künstler war seiner Arbeit anzusehen. Nun ist Mortier gestorben.

Von Holger Noltze | 09.03.2014
    Gerard Mortier
    Gerard Mortier (1943-2014) (dpa / picture alliance / Kote Rodrigo)
    Er hat keine einzige Note komponiert, nicht dirigiert, nicht Klavier gespielt, und doch hat Gérard Mortier die Welt durch Musik verändert, in dieser kleinen großen Nische, in der sich Menschen ausdrücken, indem sie singen. Besser als von der Oper ist hier vom musikalischen Theater zu sprechen, denn "Oper", das war für ihn allzu oft eine Sahnetorte, die sich bloß um sich selbst dreht, ein Reich der schönen Töne, dem der Star, das hohe C an der Rampe mehr gilt als die Kunst.
    Es war die Sehnsucht nach dem Anderen, nach Kunst, die diesen außerordentlichen Kulturmanager ein Leben lang angetrieben hat. Ein Bäckersjunge, geboren 1943 im flämischen Gent, dessen Eltern ihn mitnahmen zu Musik und Theater, der bei den Jesuiten eine strenge, aber intellektuell offene Erziehung erfuhr, an die er sich bis zuletzt dankbar erinnerte. Humanistische Bildung und Disziplin spielen darin eine Rolle, aber auch der Bezug auf die wirkliche Welt und Gesellschaft und der Mut, die Dinge nicht nur scharf zu analysieren, sondern tatsächlich zu verändern. Gern führte er einen durch seine Heimatstadt Gent und erzählte von seinen frühen Kämpfen für ein kommunales Kino, den Erhalt des Theaters usw. Gérard Mortier hat von Anfang an die Welt sehr konkret verändert.
    Nach einem Jurastudium, das er mit 17 begann und nach nur fünf Jahren mit Promotion beendete, fügte er, den man sich als eine Art Überflieger vorstellen muss, ein Studium der Kommunikationswissenschaften an, das ihn 1968 zum Flandern-Festival, dann als Disponent nach Düsseldorf an die Deutsche Oper am Rhein führte; in gleicher Funktion wirkte er am künstlerischen Aufschwung der Frankfurter Oper mit. Im "Künstlerischen Betriebsbüro" treffen sich der Wille zu Kunst und Erfolg und die Beschränkungen der Budgets und der Terminpläne, die Notwendigkeit zur Organisation und das Unwägbare, ob aus einer Vision eine Planung und aus der Planung dann Kunst entsteht, oder bloß Routine. Es war der perfekte Platz für einen jesuitisch gebildeten Juristen mit sehr guten Ohren und einer großen Passion für die Dramaturgie von Spielplänen. Und es begann der Aufstieg des eloquenten Managers Mortier in die erste Linie der Verantwortung: Er ging nach Hamburg, bald als Programmchef an die Pariser Nationaloper. 1981 dann die erste Intendanz: Unter Gérard Mortier erlebte das Brüsseler Théâtre de la Monnaie eine ästhetische Revolution, mit Regisseuren wie Karl-Ernst Herrmann, Peter Sellars und Peter Stein, Luc Bondy, Patrice Chéreau lernte die alte Oper neue Sprachen, und nach dem Wunder von Brüssel geschah das noch größere, dass man den flämischen Erneuerer 1991 zum Chef der Salzburger Festspiele machte, als Nachfolger ausgerechnet jenes Herbert von Karajan, der präzise für das stand, was Mortier verabscheute: Klangluxus als Kommerz, Starkult, die Oper als Sahnetorte.
    Ohne Scheu vor harten Wahrheiten
    Gérard Mortier konnte riskante Sätze sagen, wie sie von den schlauen Diplomaten der Szene nie zu hören sind, er schaffte, mit einer Öffnung Salzburgs zur Moderne, einen künstlerischen und geschäftlichen Aufschwung, aber er scheute sich nicht, Mafia-Methoden im Kulturbetrieb genau so zu nennen, und verabschiedete sich krachend, 2001 mit Hans Neuenfels‘ "Fledermaus" - Dekonstruktion, die die österreichischen Kulturtraditionalisten ins Herz traf. Er ging dann ans andere Ende der Welt, als Gründungsintendant der "Ruhrtriennale", die, an Industriespielorten zwischen Bochum und Duisburg, ein ganz anderes Festival sein sollte und es auch wurde, mit genreübergreifenden Erkundungen die Mortier "Kreationen" nannte. Mortier im Ruhrgebiet, das war eine gute Geschichte.
    Und dann die Rückkehr nach Paris, jetzt als Alleinherrscher über den riesigen Betrieb der alten Opéra Garnier und der neuen Bastille. Doch das Wunder von Salzburg wollte sich nicht wiederholen, Mortier brachte Paris auf die Landkarte des Musiktheaters als Kunst zurück, schaffte eine Verjüngung des Publikums, mochte aber die Erwartungen der Pariser Szene an Opern-Repräsentation nicht erfüllen. Die Berufung des Routiniers Nicolas Joel als Nachfolger 2009 konnte auch verstanden werden als Versuch, die Arbeit Mortiers vergessen zu machen.
    So wurde 2010 das Teatro Real in Madrid Mortiers letztes Projekt, und es wurde ein tristes letztes Kapitel, trotz künstlerischer Erfolge. Budgetkürzungen, Entzug der politischen Loyalität, laute Proteste eines konservativen Publikums, das eine europäische Metropolen-Oper wollte, aber eher provinzielle Affekte ausagierte. Als Mortier den Regisseur Michael Haneke überredete, noch einmal eine Oper zu inszenieren und dieser Mozarts "Cosí fan tutte" als unerbittlich trauriges Beziehungsspiel zeigte, war das vielen in Madrid zu wenig lustig. Und Mortier, der große Kommunikator, der Ermöglicher und leidenschaftliche Europäer, muss sich im fernen Spanien ziemlich verloren vorgekommen sein.
    Am Ende dann kamen die Nachricht von seiner Krankheit und die seines Rauswurfs fast gleichzeitig. Mortier hatte die spanische Kulturpolitik öffentlich provinziell genannt, und genau so reagierte sie, und degradierte ihn, den großen Kunstermöglicher, zum "künstlerischen Berater". Mortier in Madrid, das war keine gute Geschichte.
    Gérard Mortier hat die Welt mit Kunst verändert, er hat aber auch erfahren müssen, wie flüchtig alles Theater ist. Immerhin: Man wird sich erinnern. An seinen Mut, seine Passion für die Sache, seinen Charme und wenn es sein musste auch feindosierte Arroganz, vor allem aber an die Kunst und die Künstler, die er liebte, und die er so gern gezeigt hat.