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Nächster Stopp: Sozialer Brennpunkt

Der Bezirk Berlin-Neukölln ist eher berüchtigt, als berühmt und hat einen schlechten Ruf als sozialer Brennpunkt. Dass Neukölln aber auch eine andere Seite hat, will der Kulturverein "Route 44" zeigen. Er organisiert Stadtführungen durch das Multikulti-Viertel.

Von Sabine Demmer | 05.11.2009
    "Wir fangen an. Entschuldigung. - Ich bin Fatima. Ich bin 17 Jahre alt, gehe gerade in die 11d auf die Albert Schweizer Schule. Und du? - Ich heiße Mereym. Bin auch 17 Jahre alt, und ich bin in der gleichen Schule wie Fatima und wir beide machen jetzt gerade das Abitur."

    Es ist ein Donnerstagabend. Vor der "Gazi Osman Pasa Moschee" in der Schöneweiderstraße in Neukölln stehen Fatima und Mereym. Die beiden Mädchen sind modisch gekleidet, tragen Kopftuch. Mit Taxen kommen an diesem Abend zehn Teilnehmer für die Stadtführung Route 44 angefahren. Es sind Berliner selbst, die noch nie in ihrem Leben in Neukölln waren und Touristen aus den verschiedensten Bundesländern. Sie möchten erfahren, was tatsächlich dran ist an dem schlechten Ruf von Neukölln. Die beiden Mädchen führen die Teilnehmer als Erstes in die Moschee. Mereym geht vor, fragt zuerst bei den Gläubigen nach, ob es okay sei, wenn sie mit der Gruppe die Gebetsräume betritt.

    "Der Gebetsraum ist frei und wir könnten denn rein. Aber wir müssen vorher unsere Schuhe draußen ausziehen."

    Viele der Teilnehmer besuchen das erste Mal in ihrem Leben eine Moschee. Sie stellen ihre Schuhe auf ein dafür vorgesehenes Holzbrett.

    "In der Moschee achtet man halt sehr auf die Sauberkeit. Deshalb sollte man die Schuhe halt immer draußen ausziehen. Eigentlich wäscht man sich ja halt Hände, Mund und Nase, halt Gesicht, Kopf und dann noch die Füße, bevor man eigentlich in die Moschee reingeht und deshalb ist man halt eigentlich immer sauber."

    Im ersten Stockwerk der Moschee: der Gebetsraum der Männer. Bunte Fliesen verkleiden die Wände. Auf dem Boden liegen rote Teppiche aus. Kleine, abgetrennte Gebetsflächen jeweils für eine Person. Ausgelegt Richtung Mekka, zur Kaaba hin. An den Wänden stehen die Namen von Propheten. Die Teilnehmer sind neugierig. Stellen immer wieder Fragen. Warum die Frauen nicht mit den Männern zusammen beten, warum nicht auf Deutsch gepredigt werde, wie das mit dem Fastenmonat, dem Ramadan funktioniere und welche Aufgabe dem Imam zukomme.

    "Da ganz vorne, wo es ein bisschen rund wird an der Wand, da steht der Imam. Und der steht halt ganz vorne beim Beten, so als der Anführer sozusagen. - Wie viele Gebetsveranstaltungen gibt es da am Tag? - Am Tag gibt es fünf Gebete. Aber der Imam ist nicht jede fünf Gebetszeiten hier, weil im normalen Alltag sind ja nicht immer so viele Menschen. Viele beten ja zu Hause. Und noch ein Grund ist es, dass der Imam nicht so viel verdient, dass er auch damit leben kann. - Ein Imam kenne ich, der ist Fleischer und der arbeitet auch als Imam. Haha."

    Vor dem Eingang der Moschee zeigen die beiden Mädchen auf einen kleinen Supermarkt. Sie nennen ihn Kantine.

    "Das sind dann halt so Pralinen, Sachen aus der Türkei. Die wollen sie hier eigentlich verkaufen, und dann haben die Leute vielleicht so ein anderes Gefühl. Brot, eigentlich auch ein bisschen teurer als andere Supermärkte. Da hinten gibt es noch Bücher, so Koran und so Sachen. Und dann sind hier meistens so türkische Waren, halt auch mit den Teekannen. Wenn ihr wollt, könnt ihr euch umsehen."

    Zwei Teilnehmer sind ganz überrascht über die vielen Speisen, die sie nicht kennen. Vor einem Kühlfach bleiben sie stehen.

    "Ich finde, die ist so wie Salami. Die gibt es nicht so gewürzt und scharf. Das heißt Mante auf Türkisch. Da macht man so einen Teig auf, das ist groß, rund, das schneidet man so dünn und noch mal von der Seite und dann sind das so kleine Vierecke. Und darin kommt dann halt Hackfleisch mit Gewürzen und so Sachen. Das macht man dann halt zu, dann muss man das kochen und dazu Joghurtsoße."

    Die Tour 44 ist eine Führung, in der es um den subjektiven Eindruck zweier Schülerinnen geht. Sie möchten den Teilnehmern etwas von ihrem ganz persönlichen Empfinden des Kiez erzählen. Sie amüsieren sich häufig über Fragen. Freuen sich aber auch, dass sie mit ihren Antworten ein wenig mit Vorurteilen gegenüber ihrer Kultur aufräumen können. Zum Beispiel wollen die Teilnehmer wissen, warum Mereym und Fatima als emanzipierte Frauen ein Kopftuch tragen.

    "Also, ich trage es seit der siebten Klasse. - Ich etwas länger, dritte oder so. - Das wolltet ihr selber? - Aber es gibt auch leider Leute, die dazu gezwungen werden, leider. - Hat man nie das Bedürfnis auch zu den heißesten Sommertagen, das Ding sich runterzureißen, dass man sagt, jetzt möchte ich meine Haare ausschütteln und jetzt möchte ich Luft dran lassen? - Eigentlich nicht. Man trifft ja eigentlich seine Entscheidung, und dann muss man sie dann auch durchsetzen. Und man gewöhnt sich auch daran. Auch, wenn wir verreisen in die Türkei oder in den Libanon, da ist es ja auch viel wärmer. Das ist dann ganz normal. - Ist das nach freier Wahl? - Eigentlich ist das egal. - Wisst ihr schon, wen ihr heiratet? - Nein, haha."

    Ein paar Hundert Meter von der Moschee entfernt, bleiben die Mädchen vor einem grünen Schultor stehen.

    "Das ist die Röntgen-Oberschule, das war unsere ehemalige Realschule. Und dahinten ist auch eine Grundschule, die Regenbogengrundschule. - Nein, die Richard-Grundschule und hier rechts ist unsere Schule. Ja, hier stehen halt, wenn wir Schule haben zwei Securities rum, ja Wachschützer, und die sollen halt dafür sorgen, dass keine Schulfremden in die Schule reinkommen, weil es gab hier mal einen Vorfall, da wurde ein Lehrer von einem Schulfremden geschlagen, aber das war halt nur einmal, und seitdem gibt es halt diese Wachschützer. Aber wir finden das sehr blöd, weil es jede Woche immer neue Wachschützer sind, und deswegen können wir uns auch nicht an sie gewöhnen. Also, wir finden das nicht gut."

    Schülerausweise vorzeigen, müssen sie am Schultor nicht, erzählen Mereym und Fatima. Eine Teilnehmerin fragt wegen des Wachpersonals nach.

    "Passen die auch möglicherweise in den Pausen auf, wenn es Rangeleien gibt oder wenn es Schlägereien unter Schülern gibt? Sind die dann auch da und trennen die Leute? - Da sind ja nie solche Schlägereien oder so was. Es gab halt nur diesen einen Fall. Aber in der Schule haben wir eigentlich noch nie seit der siebten Klasse... Normale Streits, aber jetzt nicht der, wo die so handgreiflich werden. Nur Streits zwischen Schülern. Man schreit sich so gegenseitig an, aber nicht so verprügeln, das gab es noch nicht."

    Die beiden Schülerinnen verstehen die Aufregung um ihr Viertel gar nicht. Sie fühlen sich sehr wohl in Neukölln.

    "Es gibt auch welche, die fragen so: Könnt ihr hier noch in der Nacht draußen rumlaufen, also sie denken sehr viel Schlechtes. Deswegen machen wir die Tour hier auch, damit wir zeigen, dass es hier nicht so schlimm ist, wie man in den Medien hört."