Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Nächte voller arabischer Fortsetzungsmärchen

Betrügende und betrogene Männer, lüsterne und listige Frauen, riesige Ungeheuer und Mädchen, schön wie der volle Mond. "101 Nacht" liefert als "kleine Schwester von "1001 Nacht" eine beachtliche Sammlung arabischer Märchen.

Von Nikolaus Heidelbach | 25.11.2012
    "101 Nacht" ist ein Märchenbuch und genauso sieht es auch aus: ein dicker, über 300 Seiten starker Prachtband, gebunden in dunkelroten Samt mit einem aufgeprägten Bronzemuster. Claudia Ott hat es herausgegeben und übersetzt, sowie mit einem überaus kenntnisreichen Anhang versehen. Erschienen ist es im Manesse Verlag.

    Und ich darf das Buch besprechen. Warum, könnten Sie fragen und mir damit die Peinlichkeit ersparen, ungefragt vorweg in eigener Sache zu sprechen. Kurzum, ich bin Illustrator und bebildere seit rund 20 Jahren unter anderem Märchen, angefangen mit den Brüdern Grimm, dann Hans Christian Andersen und zuletzt Volksmärchen aus aller Welt, jeweils in einem umfangreichen Band. Sie merken sofort, dass in dieser Reihe die wohl berühmteste Märchensammlung fehlt, nämlich "1001 Nacht". Der Grund dafür ist einfach. Als Illustrator traue ich mich an dieses Zauberwerk nicht heran und kann mich in der Reihe der Bewunderer nur hinten anstellen. Ich bin nicht sicher, ob damit ein zureichender Grund existiert, mir die "101 Nacht" zur Besprechung in die Hand zu legen.

    Umso dankbarer bin ich der Herausgeberin Claudia Ott. Sie kommt mit einem glänzenden Einfall ins Spiel. "101 Nacht" ist nämlich nicht etwa eine Kurzfassung der "1001 Nacht", sondern es handelt sich um eine durchaus eigenständige Märchensammlung, von einigen wenigen stofflichen Übereinstimmungen, wie dem Ebenholzpferd und den sieben Wesiren abgesehen. Deshalb nennt Claudia Ott, und hier ist der glänzende Einfall, die "101 Nacht" die "kleine Schwester" der großen "1001 Nacht".

    Aber hören Sie sie selbst:

    Es war einmal ein König in Indien. Er herrschte mit Macht über sein Volk, genoss Ansehen unter seinen Zeitgenossen, lenkte die Geschichte seines Reiches wohl und war gerecht gegen seine Untertanen. Seine Gerechtigkeit beschirmte sie. Und seine Güte umhüllte sie ganz.

    Der König hielt jedes Jahr einen Festtag ab, an dem er das Volk mit Speisen und Getränken bewirtete. Wenn nun das Volk das Essen verzehrt und den Wein getrunken hatte und alle satt geworden waren, zog sich der König für eine Weile in seinen Palast zurück, um etwas später herrschaftlich geschmückt wieder vor sein Volk zu treten, eine Krone auf dem Haupt, zur Rechten und zur Linken seine Diener, und mit den prächtigsten Gewändern angetan. So zog er in den Thronsaal ein. Er ließ sich auf seinem Königsthron nieder. Und auch seine Wesire und sein Hofstaat durften sich setzen. Nun pflegte der König nach einem Spiegel zu fragen, und dieser wurde vor ihn gestellt. Der König betrachtete darin sein Gesicht und fragte dann: "Kennt ihr irgendjemanden auf der Welt, der schöner ist als ich?" - "Aber nein, bei Gott! Einen solchen kennen wir nicht", pflegten sie zu antworten. Und der König frohlockte und war zufrieden.

    So verhielt es ich mit ihm und so gefiel er sich selbst, bis eines Tages ein alter Scheich auf ihn zukam und ihn ansprach: "Hüte dich vor Eitelkeit, o König, solange noch Frauen Kinder kriegen. Ich habe alle Länder und Gegenden besucht, bin über Land gereist und über die Meere gefahren. In der Stadt Chorasan traf ich auf einen jungen Mann, einen von den Kaufmannssöhnen, der herzzerreißend schön ist und glänzt wie strahlendes Licht!"


    So beginnt die Rahmengeschichte der "101 Nacht". Sowohl der herzzerreißend schöne junge Mann wie auch der schöne König werden nun nacheinander von ihren Frauen aufs Schändlichste betrogen. Beide richten in ihrem Heim ein Blutbad an und finden sich in ihrer allgemeinen und endgültigen Einschätzung der Frauen einig:

    "Der Frauenschoß ist einem Pferdesattel gleich. Er ist nur dein Besitz, solange du bist der Reiter. Sobald du absteigst und dich einen Schritt entfernst steigt flugs ein anderer auf und reitet weiter."

    Von nun an hielt sich der König von allen Frauen fern. Der junge Mann blieb noch eine Zeit lang bei ihm, solange, bis ihn das Heimweh nach seiner Familie befiel. Er teilte es dem König mit und der ließ ein geräumiges Schiff für ihn bauen und es mit allen Handelswaren Indiens, Schätzen und Geld beladen. Dann nahm er von ihm Abschied. Und der junge Mann reiste ab zu seinem Vater und seiner Mutter.

    Der König lebte eine Weile so für sich allein, dann kehrte er zu den Frauen zurück, doch verbrachte er mit jedem Mädchen nur eine Nacht und tötete sie am darauffolgenden Morgen. Das ging so lange, bis er sich auch die Töchter der Wesire, Notabeln und seines Hofstaats nahm.

    Nun hatte der Großwesir zwei Töchter. Die ältere hieß Schahrasad, die jüngere Danisad. "Wesir", sprach der König zu ihm, "gib mir deine Tochter zur Frau." - "Jawohl, mein Gebieter", erwiderte der Großwesir, "sie ist deine Magd, zusammen mit ihrer Schwester. Heute Nacht bringe ich sie zu dir."

    Und als die Nacht hereingebrochen war, führte der Wesir seine Tochter in den Königspalast. Der König vereinigte sich mit Schahrasad und verbrachte mit ihr die Nacht, wobei er sein Begehren an ihr stillte. Dann schickte er sich an, sie zu töten.

    Sie aber sagte zu ihm: "Mein Fürst, wenn du mich bis zur nächsten Nacht am Leben lässt, erzähle ich dir eine Geschichte, die du ganz bestimmt noch nie gehört hast."


    Die nächste Nacht ist nun die erste, in der Schahrasad erzählt. In dieser und den folgenden hundert Nächten erzählt sie 17 Geschichten, wobei die längste 19 weitere Kleingeschichten einschließt. Und natürlich muss sie immer an einer Stelle abbrechen, die die Neugier des Königs aufs Äußerste aufstachelt und damit die Fortsetzung ihrer Geschichte und ihres Lebens erzwingt. Daraus wiederum folgt, dass das im Übrigen immer gute Ende einer Geschichte natürlich nicht mit dem Ende der Nacht zusammenfallen darf. Dem Happy End folgt sofort der Beginn der neuen Geschichte, die wenigstens bis zum ersten Spannungspunkt erzählt werden muss.

    Dazu zwei Nebenbemerkungen: Wäre es eigentlich eine reizvolle Vorstellung, wenn in unseren Tagen die Qualität der Cliffhanger in Fernsehserien vom Leben der Drehbuchschreiber abhinge? Und ist nicht die alte Frage, ob Märchen für Kinder geeignet seien damit ebenfalls beantwortet? Das Kind möchten wir sehen, das an der spannendsten Stelle friedlich einschläft.

    Aber zurück zum Inhalt, was wird erzählt? Ein Füllhorn wird über uns ausgeschüttet und wir sehen staunend auf betrügende und betrogene Männer, auf lüsterne und listige Frauen, auf riesige Ungeheuer und durchsichtige Dschinnen, lasterhafte schwarze Sklaven und Mädchen, schön wie der volle Mond. Es wimmelt von Räubern und Dieben, Königen und Wesiren und natürlich von Tieren aller Art. Hier möchte ich eines ganz besonders hervorheben, es ist eine Gazelle, die als Begleitung eines Mannes auftritt, welcher erklärend sagt: "Sie ist keine Gazelle. Sie ist meine Frau."

    Ritter erscheinen, die nach grausamen Kämpfen so lange trinken, bis ihnen vor Trunkenheit die Turbane von den Köpfen fliegen, worauf sich Fluten von schlangengleichen schwarzen Locken ergießen. Und der Held so erfährt, dass er gegen Prinzessinnen mit Gefolge gekämpft hat. Und natürlich taucht mit gleicher Selbstverständlichkeit ein fliegendes Ebenholzpferd auf, eine automatische Pfauenuhr oder ein bronzener Talisman, an dem niemand unbemerkt vorbei kommt, kurz ein Bewegungsmelder lange vor der Zeit. Wem das noch nicht genug ist, den erwartet ein aus Eiern gekneteter kleiner Elefant - ein kunstsinniger Räuber hat ihn erschaffen - oder gar ein schiefer und krummer Penis. Und wenn man lernen will, jemanden wirkungsvoll zu bedrohen, wird man ebenfalls prächtig bedient. Hier ist es König Namarik der dem Gesandten des Kalifen Abdalmalik Ibn Marwan zeigt, wo es lang geht:

    "Kehr zurück zu deinem Herrn", fuhr er fort, "und sage ihm, dass ich im nächsten Jahr zu ihm kommen werde mit 10.000 Rittern auf 10.000 Grauschimmeln und 10.000 Rittern auf 10.000 Falben und 10.000 Rittern auf 10.000 Füchsen und 10.000 Rittern auf 10.000 Rotfüchsen. Ich werde eine Armee aufstellen, deren Vorhut schon in seinem Land stehen wird, während sich die Nachhut noch bei mir befindet. Den Kalifen Abdalmalik Ibn Marwan werde ich höchstpersönlich töten. Ich werde sein Land verwüsten und die Stadt Damaskus in Schutt und Asche legen, sodass die Karawanen dort vorbeiziehen und man zueinander sagt: Hier war einmal eine Stadt, die hieß Damaskus!"

    Es wird kein Blatt vor den Mund genommen in diesen Märchen. Man begehrt sich brennend, man vereinigt sich miteinander, man betrügt und bedroht sich, man mordet und lässt hinrichten. Das alles geschieht mit größter Selbstverständlichkeit, es wird geköpft "wie man ein Schreibrohr kappt". Ähnlich gelassen, um nicht zu sagen fatalistisch enden die Märchen nicht etwa mit unserer bekannten Formel "und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute", sondern mit dem zauberhaft abgeklärten "und aßen und tranken sich satt an den köstlichsten Speisen und Getränken, bis das sichere Ende sie erreichte". Ein Ende, von dem uns Claudia Ott im Anhang wissen lässt, dass es vielleicht im Original nur als "das Sichere" steht, die Formel also auch so heißen könnte: "bis das Sichere sie ereilte." Aber mit dieser Anmerkung überschreite ich bereits eine Grenze und laufe Gefahr, mich in das bekannte Ei zu verwandeln, das klüger sein will als die Henne. Hören wir also lieber noch einmal in ein Märchen hinein und seien Sie gewarnt: Die "kleine Schwester" kostet 49,95 Euro, sie ist jeden einzelnen Dinar, verzeihen Sie, Cent wert und Sie werden es kaufen müssen, um zu erfahren, wie die Geschichte ausgeht:

    Die Leute behaupten, o König, fuhr sie fort zu erzählen, dass es zur Zeit des Kalifen Harun al-Raschid vier Freunde gab. Der eine war ein Dieb, der zweite ein Fährtenleser, der dritte war Tischler und der vierte Schütze. Die vier kamen in die Stadt Bagdad und stiegen in einem Haus ab. Die Häuser in Bagdad hatten damals eisenvergitterte Oberlichter.

    Sie betraten also das Haus. Die Nacht brach herein und sie stellten Speisen und Getränke vor sich. Da klappte plötzlich das eiserne Gitterfenster über ihnen herunter. Sofort sprangen sie auf und schauten sich um. Und was sahen sie da? Ein Mädchen gleich dem strahlenden Vollmond. "Wer bist du, Mädchen", fragten sie. Sie aber schwieg und gab ihnen keine Antwort. Da rief ein jeder von ihnen: "Sie gehört mir!"

    An dieser Stelle unterbrach das Morgengrauen Schahrasad, und sie verstummte. Der König erhob sich, entzückt von ihrer spannenden Geschichte, verschloss die Tür, versiegelte sie mit seinem Siegel und begab sich in seine Regierungsgemächer.

    DIE VIERUNDFÜNFZIGSTE NACHT
    Und so, mein Gebieter, sagte sie, geht die Geschichte weiter:

    Ein jeder von ihnen rief: "Sie gehört mir!" Da stand einer von ihnen auf. "Hört meinen Vorschlag", wandte er sich an die anderen. "Jawohl", antworteten sie. Und er sagte: "Lasst das Mädchen in irgendeinem Haus zurück, hängt Schlösser davor und schließt sie bis morgen früh dort ein, so Gott will. Wer von euch dann am listigsten und geschicktesten ist, der soll sie haben." - "Was für eine gute Idee", lobten die anderen. Damit ergriffen sie das Mädchen, brachten sie in ein Haus, hängten ein Schloss davor und begaben sich für diese Nacht zur Ruhe.

    Sowie sie am Morgen erwacht waren, öffneten sie die Tür und suchten nach dem Mädchen. Sie fanden keine Spur mehr von ihr.

    Da sagte der Fährtenleser: "Ich werde nachsehen, auf welchem Weg sie entkommen ist." Er suchte eine Weile. "Dieses Mädchen", sagte er dann zu ihnen, "wurde von einem Ifrit entführt, einem von den Dschinnen. Hätte ein Mensch sie entführt, so würde ich hier seine Spuren sehen. Doch nun folgt mir, damit ich euch seine Fährte zeigen kann. Denn ich schwöre bei Gott! Selbst wenn sie so hoch wie die Sonne gestiegen oder im tiefsten Grab untergetaucht wäre: Ich finde sie!" Mit diesen Worten führte der Fährtenleser sie auf der Fährte entlang, bis er mit ihnen ans Ufer des Meeres gelangt war. "Auf dieses Meer ist sie hinausgefahren", befand er.
    Da wandten sie sich an den Tischler. "Wo ist nun deine Handwerkskunst, mit der du immer geprahlt hast?" - "Jawohl", sagte der und baute ihnen ein Boot. Sie stiegen alle miteinander ein und fuhren aufs Meer hinaus. Mitten auf dem Meer erreichten sie einen hoch aufragenden Berg. Der Berg sah aus, als sei er mit Schnäbeln aufgehackt und mit Sägen zugerichtet worden. Sie warfen die Anker aus und machten ihr Boot fest.

    Dann sagten sie zu dem Fährtenleser: "Nun, wo ist deine Kunst, deren du dich rühmst?" - "Zu Recht", sagte der und führte sie die Fährte entlang bis zu einer Höhle. Und siehe da! Dort fanden sie das Mädchen. Und in ihrem Schoß ruhte der Kopf des schlafenden Ifrit. Sogleich machte der Fährtenleser kehrt und ging zurück zu dem Dieb. "Und wo ist deine Handwerkskunst, ehrenwerter Dieb, mit der du immer prahlst", forderte er ihn auf. "Wohlan", antwortete der, stieg vom Boot, ging zu dem Mädchen und fand sie in der Höhle, genau wie zuvor. Mit trickreichen Kunstgriffen beförderte er den Kopf des Ifrit von ihrem Schoß, während der Ifrit weiterschlief. Er führte sie zum Boot und sie stieg ein.

    In diesem Moment erwachte der Ifrit aus seinem Schlummer und fand keine Spur mehr von dem Mädchen. Er stieß einen Schrei aus, von dem der ganze Berg widerhallte. Dann erhob er sich in die Lüfte. Unter sich erblickte er das Mädchen in dem Boot.

    Er schoss herab und stürzte sich auf sie, um sie alle miteinander zu versenken, da sagten sie zu dem Schützen: "Wo ist denn deine Handwerkskunst, mit der du dich brüstest?" - "Zu Diensten", sagte der. "Schieß uns diesen Ifrit tot", verlangten sie. Er nahm einen Pfeil, legte ihn in seinen Bogen, spannte und schoss auf den Ifrit. Dieser stürzte tödlich getroffen ins Meer.

    Jetzt sagte ein jeder von ihnen: "Das Mädchen gehört mir!" Und sie begannen miteinander zu streiten um die Künste, die sie angewandt hatten. "Wärt ihr einverstanden", schlug nun der Dieb ihnen vor, "dass der Beherrscher der Gläubigen, Harun al-Raschid, in der Sache des Mädchens über uns richtet?" - "Das lass uns tun", stimmten sie zu. "Ich wird euch zu ihm bringen", sagte er, "und wem auch immer er das Mädchen zuteilt, dem wollen wir es gönnen, dass er sie dann auch bekommt." - "Gut", sagten sie und erklärten sich einverstanden. Das also nahmen sie sich vor.

    An dieser Stelle unterbrach das Morgengrauen Schahrasad und sie verstummte.


    Buchinfos:
    "101 Nacht". Aus dem Arabischen von Claudia Ott nach der Handschrift des Aga Khan Museums, Manesse Verlag, 329 Seiten, 49,90 Euro