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Nächtliche Telefongespräche

Ein Mann und eine Frau telefonieren Nacht für Nacht und erzählen sich ihr Leben. Sie kennen sich nicht und doch entwickelt sich im Laufe der Zeit eine Vertrautheit. Gerlind Reinshagen hat sich mit ihrem Roman "nachts" der Vereinzelung, die das Großstadtleben mit sich bringt, gewidmet.

Von Cornelia Staudacher | 01.02.2012
    Die Themen ihrer Hörspiele, Romane und viel gespielten Theaterstücke entnimmt Gerlind Reinshagen ihrem unmittelbaren Lebensumfeld. Sie schreibt über Menschen, die sie kennt, über Probleme und Schicksale, von denen sie erfahren, oder Ereignisse, die sie selbst erlebt hat, und stellt diese in einen verallgemeinernden gesellschaftspolitischen oder philosophischen Zusammenhang. Dabei schaut sie sich mit Vorliebe im Kreis der sogenannten kleinen Leute um, die ihrer Meinung nach in der zeitgenössischen Literatur zu kurz kommen.

    Thema des neuen Buches, eines Romans in Gesprächen, ist die Vereinzelung, die Vereinsamung, die das Leben in einer Großstadt mit sich bringen kann. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind in Deutschland circa 24 Prozent aller Haushalte Einpersonenhaushalte, in Berlin sind es über 50 Prozent. Zwei Singles, wie sie neudeutsch genannt werden, sind es auch, die sich in dem Roman in nächtliche Telefongespräche verwickeln.

    "Wenn Sie abends um sechs telefonieren, und sie haben lauter Singles dran, die telefonieren und telefonieren und telefonieren, ist immer besetzt. Es gibt so unendlich viele einsame Leute, Singles, und sie brauchen es alle, sie wollen sich nicht so bloßstellen mit ihrem Gerede, aber man merkt bis zum Schluss, sie sind auf den anderen angewiesen, um sich selber auch zu erklären, um selber erkannt zu werden. Das Wichtigste war mir bei dem alten Mann, dass er zu dem Schluss kommt, dass die meisten alten Leute weggehen müssen, ohne dass sie als etwas Besonderes erkannt worden sind, was jeder möchte. Das war für mich ganz wichtig, das Erkanntwerden, das beinahe wichtiger ist als eine Liebesbeziehung oder eine Freundschaft."

    Wir leben im Zeitalter der Beredsamkeit, heißt es gleich zu Beginn: "Die Menschen reden und reden. Unangefochten. Unaufhörlich. Indezent. Jedermann wünscht, sich zu erklären".

    Ein ungleiches Paar sind die beiden, die hier Nacht für Nacht der Beredsamkeit frönen. Sie sind kein Liebespaar, kein Freundespaar. Und doch entwickelt sich im Laufe der Zeit eine Vertrautheit, die die Gespräche in Fluss hält. Der Mann, pensionierter Arzt einer, wie er es nennt, Feld-, Wald- und Wiesenpraxis gehört zur Generation der Autorin, den "mental Kriegsverletzten", mit denen sich Reinshagen häufig beschäftigt.

    Teresa ist halb so alt wie der Doktor. Sie ist Schneiderin, "Flickschneiderin", wie sie sich mit ironischem Understatement nennt. "Erzählen Sie mir ihr Leben", sagt sie nach einem kurzen Geplänkel, wie es manchmal entsteht, wenn man sich verwählt hat. Und er, der ältere, erzählt aus seinem Leben, berichtet von seinen Illusionen und Enttäuschungen, von seinen kleinen Siegen und großen Schürfungen, die ihm das Leben zugefügt hat, vom Krieg und der Nachkriegszeit. Er spricht, schwadroniert, philosophiert über die Wahrheit, lamentiert über die ganz gewöhnliche "Faulheit zum Tode", sucht nach Worten, berichtigt sich, nimmt Gesagtes zurück. Mal lobt er seine Zuhörerin für ihr Schweigen: "Sie haben schöner, einfühlsamer, mitleidiger geschwiegen als alle Freunde, die ich näher kenne." Dann wieder wirft er ihr "Harthörigkeit" vor und zweifelt an ihrem Interesse und an seinem Verstand, sich redend derart ausgeliefert zu haben. Kurz, er manövriert sich in eine ausweglose Situation, die zum vorläufigen Abbruch der Gespräche führt.

    "Das ist auch eine Unzufriedenheit mit sich selbst, weil er will ja nicht reden, er geniert sich ja auch, er möchte was loswerden, er möchte Zuwendung, und er redet und er redet, und im Grunde ist es ihm ein bisschen peinlich, und dann sagt er, hören Sie auch zu, er kriegt sie immer ran, hören Sie, und bitte machen Sie nicht noch was anderes, Sie sollen genau zuhören, Sie können nicht nähen und zuhören zusammen."'"

    Als die Gespräche nach einiger Zeit erneut aufgenommen werden, ist es wieder der Doktor, der Inhalt und Richtung vorgibt. Er hat sich einer Operation am Herzen unterziehen müssen, die ihm sein Alter deutlich vor Augen geführt hat. Als ein aller Pläne, Termine und Pflichten entbundener Pensionär hat er viel Zeit für ausgiebige Spaziergänge in der Stadt und im Umland. Er beobachtet die Menschen und denkt über die verrinnende Zeit und die Qualen und Vorzüge des Alters nach. Und sie ist klug und einsichtig genug, sich nicht auf einen Disput mit ihm einzulassen, sondern es bei kleinen Bemerkungen oder Zwischenfragen bewenden zu lassen, wobei sie seinem gelegentlich allzu sehr ins Pessimistische neigenden Weltbild das hoffnungsvollere, sinnenfrohe Lebensgefühl der Jüngeren entgegensetzt. Am Ende bittet er sie, ihm ihr Leben zu erzählen.

    ""Es geht eigentlich um eine Wette zwischen den beiden. Er sagt, wenn man dieses ganze lange Alter sieht, ist das Leben gar nichts wert, also das Alter ist so beschissen, dass die paar schönen Jahre nichts bringen, und sie weiß es, sie kann sich nicht so gut ausdrücken, sie hat auch nicht so viel drüber nachgedacht, aber sie sagt, das kann nicht alles sein und sie gibt ihm contra. Und erst ganz zum Schluss sagt sie, es gibt Dinge, die sind so toll, die sind so bestaunenswert, und wenn Sie das nicht sehen, dann tun Sie mir auch leid."

    Was verbindet diese beiden Menschen miteinander? Ist es, um es mit Sartre, einem Idol seiner Jugend, zu sagen das Ausgeliefertsein des "zur Freiheit verurteilten Individuums"? Die Angst der Jüngeren vor dem Leben wie des Älteren vor dem Tod? Oder die Nähe, die sich im Laufe der Zeit zwischen ihnen hergestellt hat? Ist es Liebe, Freundschaft oder eine Seelenverwandtschaft, die sie bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen wie dem wuchernden Konsumismus oder der oberflächlichen Großmäuligkeit der Netzschwadroneure kritisch gegenüberstehen lässt? Oder die Suche nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit beim Reden, wie es Heinrich von Kleist in seinen Betrachtungen über die "allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" darlegt. Auf dem Weg zur Selbsterkenntnis, beim "Bestreben, sein innerstes Wesen zu erkennen", so Kleist, sei die freie, wahrhaftige Rede hilfreicher als ein "vielleicht stundenlanges Brüten".

    Auch für Gerlind Reinshagen ist die Intention, die Gedanken beim Reden oder Schreiben unmittelbar Gestalt annehmen und aus sich selbst heraus fortfließen zu lassen – l’idée vient en parlant –, die in letzter Konsequenz zum automatischen Schreiben der Surrealisten und Dadaisten führt, eine reizvolle Motivation fürs Schreiben. Und sie beherrscht nicht nur die Fähigkeit, sich schreibend dem inneren Gedankenfluss mit aller Wahrhaftig-keit zu überlassen. Sie verfügt auch über das für das Gelingen eines solchen Vorhabens notwendige schriftstellerische Instrumentarium.

    Die Erzählung des Doktors von den drei Obdachlosen, zwei Frauen und ein Mann, die sich auf einer Parkbank vor seinem Haus eingerichtet haben, zeugt von elementarer surrealer Bildkraft und könnte einem Film von Fellini entlehnt sein: die schöne Böhmin, der verarmte Rockefeller und die alte Zosia mit ihrem Köfferchen, in dem sie die Knochen ihres gefallenen Sohnes aufzubewahren vorgibt. Dann wieder gibt es abstrakte Abschweifungen in metaphysische Gefilde und metaphorische Anspielungen. Teresas Huldigung am Ende eines ganz normalen Tages in ihrem Kiez als den schönsten Tag, den sie erlebt habe, gerät in seiner Dynamik und Musikalität zu einer hymnischen Apologie auf das Leben.

    Das legendäre, von Sokrates stammende "Sprich, damit ich dich sehe", das sich die Hörspielredaktionen der Nachkriegszeit als Motto auf die Fahnen geschrieben hatten, trifft für "nachts" ohne Einschränkung zu, einen Dialogroman, der auch als Hörspiel vorstellbar ist. Zwei Personen erhalten ihre Konturen, indem sie miteinander sprechen. Für eine Erzählerrolle ist da kein Raum. Es ist die Sprache selbst, die zum Akteur wird.

    Eine Sprache, die direkt, verständlich und doch von einer dezenten, unaufdringlichen Exklusivität ist. Denn obwohl sie gestaltet ist und literarischen Ansprüchen wie Rhythmik, Musikalität und einer poetischen Anmutung genügt, wirkt sie nicht künstlich oder ambitioniert.

    In ihrem steten Wechsel zwischen Konkretem und Abstraktem spürt man vielmehr die Dringlichkeit dieses sich gegen den "Zustand der Verholzung" richtenden Unterfangens.
    "Das Denken ist die Arbeit des Geistes, die Träumerei seine Lust" hat Victor Hugo einmal gesagt. In "nachts" hat Gerlind Reinshagen die rationale und träumerische Seite der Arbeit des schreibenden Geistes zu einem feinsinnigen literarischen Kammerspiel verwoben.

    Gerlind Reinshagen: "nachts", Roman, Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 130 Seiten, 16,90 Euro.