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Nah am Werk

Jens-Fietje Dwars eröffnet mit seiner Peter-Weiss-Biografie "Und dennoch Hoffnung" eine neue Sicht auf den Autoren. Das anregende Buch hat das Verdienst, die Erinnerung an den großen europäischen Schriftsteller wachzuhalten.

30.04.2007
    1947 ist Peter Weiss, ein heute kaum mehr beachteter großer Schriftsteller, ein erstes Mal aus seinem schwedischen Exil nach Deutschland zurückgekehrt. Eine Stockholmer Morgen-Zeitung hatte ihn beauftragt, aus Berlin über die Zustände im besiegten Land zu berichten. Er schrieb kritische Elendsberichte. Schrieb er, wie später, als er berühmt wurde, im Horizont eines kritischen Sozialprogramms? Gar im Horizont des sozialistischen Jahrhundert-Versprechens, des Versprechens einer gerechteren Welt, das in der Sowjetunion und im NS-faschistischen Deutschland bereits weitgehend zugrunde gerichtet worden war? In den Texten gibt es nichts offen Programmatisches. Er schrieb unmittelbar zum konkreten Elend, das er zu Gesicht bekam. Detailgenauigkeit ist von Schwermut überzogen. Kritik wirkt schwebend, ist von Traumbildern durchkreuzt, offensiv politisch ist sie nicht. Die Texte verraten aber eine in der Traumarbeit wirksame grund-politische Vernunftsunruhe, aus der hervor das literarische Gesamtwerk sich von nun an entfalten wird.

    Wohl war Peter Weiss aufgrund seines Gebanntseins in nervösen Angst- und realhalluzinatorischen Bilderwelten disponiert für die Psychoanalyse, von der er sich eine größere Realitäts-Tauglichkeit versprach, mehr noch eine fortschreitende ästhetische Verfahrens-Sicherheit. Vor allem aber liegt in dieser Disposition der Grund für sein Leiden an den Strukturen und Verhängnissen der Macht.

    "Überall, wo die Macht als Prinzip gilt, gibt es auch Henker. Und wo auf dieser Erde schlummert nicht unerweckt der Henker und lauert auf seine Chance?"

    Solche nihilistisch anmutenden Sätze sind der Gedankenkeim, aus dem seine Nachkriegsliteratur nun, nach Berlin 1947, zu wachsen beginnt und eigensinnig politisch werden wird. Weder der Westen noch der Osten werden ihn im zeitgleich beginnenden Kalten Krieg für sich vereinnahmen können. Seine Ängste und Bild-Halluzinationen sind unteilbar wie seine Neigung, sie auf die politischen Realitäten in West- und Ost zu übertragen, und sie widerstehen dergestalt auch ungeteilt dem geschichtlichen Ganzen. Ein nervös-individuelles Motiv arbeitet im Angst-Untergrund: Bleibt die NS-Logik in Kraft, dass ich zu denen gehöre, die ausgelöscht werden sollten? Gibt es kein Entrinnen aus dem Todeskreis? Weiss montiert 1947 Lager-Träume in die Buchveröffentlichung der Berichte "Die Besiegten".

    "Mein Vater liebte die Menschen und er sah sie in endlosen Reihen den großen Öfen entgegenziehen, durch deren Schornsteine der süßliche Geruch von verbranntem Menschenfleisch auf ihn herabfuhr. / Die Welt ging unter im Vater, während der Sohn verloren außerhalb der Mauern stand."

    Peter Weiss vermeidet es, die Opfer, die von der deutschen Erfindung fabrikmäßiger Massentötung ausschließlich gemeint sind, beim Namen zu nennen. Scheute er sich, die deutsche Schuld als ein Schicksal der Juden fortzuschreiben? Die Scheu wird bleiben. Jüdische Instanzen haben sie ihm verübelt. Über seine geschichtlich tief verunsicherte jüdische Identität an der Seite der Besiegten, nicht der Sieger, lassen seine Texte keinen Zweifel zu.

    "Unter den Trümmern suche ich nach mir selbst. / Ich erlebe die Folter. Ich erlebe den kollektiven Tod. / Wer bin ich?"

    In diesem Kontext treibt den Autor in Berlin 1947 die Vernunftsunruhe zu kühnen, genuin politischen Verallgemeinerungen von Szenen, auf die er blickt. Zum Beispiel: Die deutsche Schuld, die er konkret in den Folge-Schäden bei schock-traumatisierten Kindern verkörpert sieht, rückt er in die Perspektive der Sieger. Das ist sensationell. Haben die Sieger nicht auch diese Kinder befreit? Der Blick des Autors geht tiefer: "Ungelöst" werde bleiben, was ihre schrecklichen Todeserlebnisse diesen Kindern angetan haben.

    "Sie sind Besiegte."

    Oder: Die Sieger im Westen nehmen die Unverträglichkeit in Kauf, die zwischen der deutschen Schuld und der Absicht besteht, sie durch die so genannte Entnazifizierung aus der Welt zu schaffen: In den "großen Leerraum" (ins Tabu) des kollektiven Gedächtnisses, "wo der Dämon gewütet hat", werde sich die deutsche Schuld fortan verbergen, in West und Ost, und die Schuldigen werden sich hüten, auf ihr Werk zurückzublicken, denn der Gott der Juden könnte sie zur Salzsäule erstarren lassen.

    Dergestalt im Bilde einer Szene aus der Genesis und wie kein anderer vorausblickend hat Peter Weiss 1947 das deutsche Entschuldungsbegehren erkannt, wie es sich als trotzige Vergesslichkeit bereits auf die Seite der Sieger geschlagen und dort die Ausdrucksform eines neuen deutschen Nationalismus angenommen habe, auch dies in Ost und West. Weiss setzt dagegen den Satz:

    "Alle sind wir Besiegte."

    Er wird drei Jahrzehnte später, am Ende seines Hauptwerkes, der "Ästhetik des Widerstands", 1981 diesen Satz historisch aufgearbeitet haben: Erstmals total besiegt gewesen sei am 8. Mai 1945 der Widerstand im 20. Jahrhundert gegen die Zerstörung der Menschlichkeit. "Erschüttert", so wird der Autor schreiben, standen die Überlebenden mitten im Jubel, denn es sei ihnen gewesen, "als sei das Gebrüll der Erleichterung eigentlich Ausdruck des Entsetzens über eine Niederlage." Schriftsteller würden eine gerechtere Welt erst wieder neu entwerfen müssen und ihr Eingangsthema werde zunächst ein Epigramm der Renaissance sein, über dem Tor zu Dantes Inferno "Laßt alle Hoffnung fahren!"

    Angeregt zu diesen kurzen Betrachtungen über einen einheitlichen, einen politischen Aspekt im Weiss'schen Werk hat eine neue Weiss-Biografie im Aufbau-Verlag. Ihr Verfasser Jens-Fietje Dwars hat den Berlin-Aufenthalt des Autors 1947 zum Dreh- und Angelpunkt gewählt. Er nennt ihn "Wendejahr". Diese Sichtweise ins Werk zurück und vor kommt einer Lektüre des Buches entgegen, die an den komplizierten Entfaltungsbedingungen interessiert ist, denen der Exilant Peter Weiss in Deutschland unterworfen war. Auch die Eröffnung des Buches ist ein Glücksfall: Jens-Fietje Dwars überrascht uns mit der Geschichte seiner Erstbegegnung mit der DDR-Ausgabe der "Ästhetik des Widerstands" von 1983: ein schöner Anfang. Es gab sie also, die intensive Lektüre aller drei "Ästhetik"-Bände, im Osten; während die Lesegruppen-Bewegung in der westdeutschen Linken den Anforderungen des dritten Bandes nicht mehr gewachsen war: Er stellt die Unterdrückung der Informationen über die Vernichtungslager durch die dogmatische Linke im antifaschistischen Widerstand dar.

    Die DDR-Eingangsperspektive tut dem ganzen Buch gut, macht es lebendig, lockert die Starre auf, in die die akademische Weiss-Beschäftigung im Westen weithin verfallen ist. Dem Verfasser gelingt es, seinen "unzeitgemäßen" Autor, der sich selbst in die Lage eines "Fliegenden Holländers und Ewigen Juden" zwischen Ost und West gebracht sah, ein Stück weit in die deutsche Öffentlichkeit zurückkehren zu lassen. Viele dem Verfasser wichtige Texte sind in oft schönen Paraphrasen wiedergegeben und leitmotivisch ist das bildgestützte Kunstverständnis des politischen Schriftstellers problematisiert. Einwände wie die folgenden sollen hier nicht gehäuft werden: Etwas zu flott und abgedichtet ist die Autor-Entwicklung psychologisiert, eine Darstellung der politischen Weiss-Rezeption im Westen und der allgemeinen Nicht-Rezeption heute fehlt, wir lesen nichts über den Antisemitismus-Komplex der Weiss-Gegner. Wenn zum Beispiel jemand in dieser Biografie genauere Informationen über die vielen Gründe und Konkreta zur Einsamkeit und Intriganz um Peter Weiss in der Gruppe 47 sucht, dann genügt es nicht, im Vorübergehen von der Traumatisierung des Autors durch diese Gruppe zu sprechen, aber dann bloß ironische Nebenbemerkungen zum Beispiel über die Konkurrenzwut des Günter Grass fallen zu lassen. Wir sprechen aber nicht über eine kompositorisch anspruchsvolle, ausgeruhte, mit gutem Apparat ausgestattete, auch methodisch selbstreflektierte Weiss-Biografie. Auf sie wird man geduldig noch warten müssen. Dieses anregende Buch, textnah und problemfreudig geschrieben, hat das Verdienst, die Erinnerung an den großen europäischen Schriftsteller Peter Weiss vorerst wach zu halten.

    Jens-Fietje Dwars: Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss. Eine Biographie
    Aufbau Verlag, Berlin 2007
    256 Seiten, 24,90 Euro


    Wer die drei Bände der "Ästhetik des Widerstands" kennt, hat sicher Mühe sich vorzustellen, man könne diesen Roman, der Ernst machen will mit Sartres Idee, den objektiven Geist einer Epoche zu verkörpern, in ein angemessenes Hörstück verwandeln. Der Regisseur Karl Bruckmaier hat sich jedoch über alle möglichen Bedenken hinweggesetzt und rund ein Drittel des komplexen Romans über die Niederlage der Arbeiterbewegung vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Diktatur als Hörspiel bearbeitet.

    Zwölf CDs, fast Zwölf Stunden umfasst das Hörbuch. Peter Fricke und Robert Stadlober als älterer und junger Erzähler tragen wesentliche Parts in diesem Stück. Puristisch, mit wenigen Stilmitteln inszeniert, ganz auf die Wirkung des Textes setzend ist Bruckmaier etwas Außerordentliches gelungen. Ein Hörspiel, dass nicht vorgibt die Lektüre ersetzen zu wollen, ein eigenständiges Werk, dass inspiriert, den Roman wieder oder vielleicht auch zum ersten Mal zur Hand zu nehmen.


    Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands
    (Prod. BR/WDR) Der HörVerlag, München 2007
    12 CDs, 630 min, 59 Euro