Ethnologie des Weihnachtsmanns

Kindergott und Totenkönig

05:29 Minuten
Filmstill aus Tim Burton's "Nightmare before Christmas", 1993.
Auch in der Unterhaltungskultur zeigt sich die Verbindung zwischen Weihnachtsmann und Totenkult: hier in Tim Burtons "Nightmare Before Christmas". © picture alliance/United Archives/Impress
Von Constantin Hühn · 22.12.2019
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"Morgen kommt der Weihnachtsmann" – aber warum eigentlich? Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss vermutete 1952 in einem Essay eine kulturübergreifende Funktion des Geschenkebringers. Ausgangspunkt war ein makaberes Ereignis.
"Auf dem Vorplatz der Kathedrale von Dijon wurde vor Hortkindern der Weihnachtsmann verbrannt" - so titelt am 24. Dezember 1951 die französische Tageszeitung France-Soir. Am Vortag hatten katholische Geistliche öffentlich eine Weihnachtsmannpuppe verbrannt, um gegen die "heidnische" Vereinnahmung des Weihnachtsfestes zu protestieren. Mit dieser brutalen Szene beginnt Claude Lévi-Strauss seinen Essay "Der gemarterte Weihnachtsmann".
Der bald weltberühmte Ethnologe nimmt die makabere Geschichte zum Anlass, nach der gesellschaftlichen Funktion des scheinbar harmlosen Weihnachtsmanns zu fragen: Warum betreiben die Erwachsenen einen solchen Aufwand, damit Kinder an ihn glauben?

Gottheit der Kinder

"Der Weihnachtsmann ist die Gottheit einer Altersklasse unserer Gesellschaft, und der einzige Unterschied zwischen dem Weihnachtsmann und einer wirklichen Gottheit besteht darin, dass die Erwachsenen nicht an ihn glauben, obwohl sie ihre Kinder ermuntern, es zu tun."
Der Glaube an den Weihnachtsmann markiert also die Grenze zwischen den ahnungslosen Kindern und den eingeweihten Erwachsenen. Der Weihnachtsmann ist aber viel mehr als ein Erziehungsinstrument für Kinder, meint Lévi-Strauss. Der bärtige Hüne stehe für das Ringen ums Ganze: das Ringen mit dem Tod.

Ähnliche Bräuche in anderen Kulturen

Auf diese Idee kommt Lévi-Strauss, weil es auch in indigenen Gesellschaften Figuren und Riten gibt, die dem Weihnachtsmannbrauch verblüffend ähnlich sind. Zum Beispiel die "Katchinas", die in der nordamerikanischen Pueblo-Kultur jährlich die Kinder heimsuchen:
"Diese kostümierten, maskierten Personen verkörpern Götter und Vorfahren, periodisch kehren sie zurück und besuchen ihr Dorf, um dort zu tanzen und die Kinder zu bestrafen oder zu belohnen, und man sorgt dafür, dass diese hinter der traditionellen Verkleidung nicht ihre Eltern oder Verwandten erkennen."
Die Katchinas umtanzen den Nachwuchs aber aus einem tieferen Grund: Die Kinder stehen für die Toten, die regelmäßig beschwichtigt werden müssen, damit sie die Lebenden in Frieden lassen. Aus dem interkulturellen Vergleich zieht Lévi-Strauss den Schluss, dass Weihnachtsriten traditionell dazu da sind, unsere Beziehung zu den Toten, zum Jenseits aufzubauen und abzusichern.

Weihnachten als Fest der Toten ...

Nicht nur in der heutigen Popkultur – wie etwa in Tim Burtons Animationsklassiker "Nigthmare before Christmas" – kann man Hinweise für diesen Zusammenhang entdecken. Auch in der europäischen Geschichte entdeckt Lévi-Strauss Belege dafür: Der Weihnachtsmann sei ein ferner Nachfahre der Königs-Figur bei den römischen Saturn-Feiern. Bei diesem wilden Treiben um die Weihnachtszeit wurden die Toten geehrt, indem man ihnen für begrenzte Zeit die Oberhand gewährte.
Im Mittelalter wurde dieses Spektakel von verschiedenen närrischen Bräuchen abgelöst, bei denen oft Kinder und Jugendliche als kostümierte Wiedergänger der Toten die Erwachsenen aufmischten.
"Wer aber kann in einer Gesellschaft von Lebenden die Toten verkörpern, wenn nicht all diejenigen, die in irgendeiner Weise nur unvollständig in die Gruppe integriert sind, das heißt, denen jene Andersheit anhaftet, die das Zeichen des höchsten Dualismus ist: des Dualismus zwischen den Toten und den Lebenden?"

... und Triumph des Lebens

Und so ist es für Lévi-Strauss wenig verwunderlich, dass, von den römischen Totenfeiern bis zum modernen Weihnachten, vor allem "Fremde, Sklaven und Kinder" – als Stellvertreter der Toten – "zu den hauptsächlichen Nutznießern des Festes werden". Der Besuch des Weihnachtsmanns erweist sich damit als abschließendes Echo eines rituellen Ringens mit den Toten, das mit Halloween beginnt und den gesamten Herbst durchzieht: "der Triumph des Lebens, wenn an Weihnachten die mit Geschenken überschütteten Toten die Lebenden verlassen, um ihnen bis zum nächsten Herbst Ruhe zu gönnen."
Dass die Figur, die diesen Triumph verkörpert, heute vom provozierenden Karnevalskönig zum gutmütigen Greis geworden ist, erklärt Lévi-Strauss damit, dass uns die Geister der Toten keine Angst mehr machen – deshalb können wir sie mit Geschenken abspeisen, statt ihnen die Macht zu überlassen.

Kinderglaube als Trostpflaster

Vor der Kälte und dem Verlust, die wir mit dem Tod verbinden, fürchten wir uns aber immer noch und wollen deshalb an das Gegenteil glauben: an eine Zeit voller Wärme und Großzügigkeit. Auch wenn wir selbst nicht an den Weihnachtsmann glauben, hoffen wir, uns am kindlichen Glauben wärmen und trösten zu können. Unsere Geschenken werden zum "Gebet" an die Kinder: "damit sie einwilligen, an den Weihnachtsmann zu glauben, und uns damit helfen, an das Leben zu glauben."
Der verbrannte Weihnachtsmann von Dijon jedenfalls ist tags darauf auf Veranlassung der Stadtoberen höchst offiziell wieder auferstanden.
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