Donnerstag, 28. März 2024

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Nahost-Experte: Mursi erlebt Grenzen seiner Macht

"Die Muslimbrüder wollen die Macht", beschreibt Nahost-Experte Michael Lüders die aktuelle Situation in Ägypten. Mursi habe einen schweren Fehler gemacht, als er sich quasi zum Alleinherrscher Ägyptens erklärte. Das habe er mittlerweile begriffen.

Michael Lüders im Gespräch mit Gerd Breker | 10.12.2012
    Gerd Breker: Am Telefon sind wir nun verbunden mit dem Nahost-Experten Michael Lüders. Guten Tag, Herr Lüders.

    Michael Lüders: Schönen guten Tag, Herr Breker.

    Breker: Endet der Arabische Frühling in Ägypten in einem islamistischen Herbst?

    Lüders: Ja, den Eindruck kann man haben. Aber man kann natürlich auch die Dinge positiv deuten und sagen, was wir hier jetzt gerade in Ägypten beobachten, das ist ein demokratischer Wandlungsprozess, den die ägyptische Gesellschaft durchläuft, nachdem Mubarak vor zwei Jahren nun gestürzt wurde. Es ist ja nicht einfach, aus dem Nichts demokratische Strukturen zu schaffen. Und genau dieses ist das zentrale Problem. Die Muslimbruderschaft hat die Macht nach 80 Jahren im Untergrund für sich gewonnen. Seit den 1920er-Jahren waren die Muslimbrüder im Untergrund aktiv, ihre Führung war immer nur eine kleine Gruppe von überwiegend älteren Herren, fünf bis zehn Menschen, die ohne Absprache mit der Basis ihre Entscheidungen einsam gefällt haben. Das war im Untergrund legitim, anders wäre es wohl auch nicht gegangen. Aber nun hat sich Ägypten geöffnet. Die Muslimbrüder haben aber ihre Mentalität – und das gilt auch für den Präsidenten Mursi – nach wie vor nicht in einen neuen Modus geschaltet, wenn ich so sagen darf. Sie tun immer noch so, als würden sie im Untergrund eine Untergrundbewegung organisieren. Mursi ist aber der Präsident Ägyptens und der muss natürlich eine andere Politik betreiben. Die Muslimbrüder machen also gerade eine Lernerfahrung durch. Ob das gelingt, ob sie sich öffnen und demokratisieren, das ist die offene Frage.

    Breker: Ist es denn, Herr Lüders, wirklich eine Lernerfahrung in Sachen Demokratie oder erleben wir nicht, zumindest wenn wir von außen schauen, mehr so den Versuch der Muslimbrüder, den gesamten ägyptischen Staat unter Kontrolle zu kriegen?

    Lüders: Ja und nein. Die Muslimbrüder wollen die Macht, sie haben sie errungen auf demokratische Art und Weise und sie wollen sie, diese Macht, um jeden Preis verteidigen. Aber sie wissen natürlich auch, dass die Geschichte weitergegangen ist. Geschichte vollzieht sich im Nahen Osten zurzeit im Zeitraffer. Eine Rückkehr zu den Verhältnissen wie unter Mubarak, also ein Staatsmann, der die Macht an sich reißt und über Jahrzehnte als Pharao agiert, das kann Mursi nicht machen, das weiß er auch. Da sieht die neue Verfassung ganz klar vor: zwei Amtszeiten für den Präsidenten, acht Jahre, dann ist Schluss. Aber diese undemokratischen Strukturen sind in den Köpfen tief verankert und es bedarf wirklich einer kulturellen Erneuerung, nun Ägypten als einen Staat zu begreifen, der ein Gemeinwesen ist. Es gibt immer noch eine sehr stark ausgeprägte Pharao-Mentalität, eine Pascha-Mentalität, den Glauben an den einen starken Mann an der Spitze, der dann die Probleme des Landes lösen könnte. Das kann Mursi nicht. Das hat er auch jetzt schmerzhaft erfahren. Er musste das Dekret, das ihn vor zwei Wochen zum Alleinherrscher quasi gemacht hat, jetzt höchstpersönlich wieder zurückrufen. Das ist für ihn eine schwere politische Niederlage und würde er jetzt auch die Verfassung nicht durchziehen, wie er das vor hat, könnte er gleich zurücktreten. Dennoch: Diese Verfassung, die am kommenden Samstag mit Sicherheit verabschiedet werden wird, weil die Muslimbrüder dafür sein werden und die Opposition die Wahlen boykottieren wird, die Abstimmung darüber, sie wird noch mehrfach verändert werden in den nächsten Jahren. Mursi hat ja einen großen Fehler gemacht, so sehr das Tempo voranzutreiben, statt erst einmal Ruhe einkehren zu lassen, die demokratischen Institutionen, die Parteien, die Gewerkschaften im Land zu stärken, in einen offenen Prozess des Dialoges einzutreten. Er regiert nach Pascha-Methode, das funktioniert in Ägypten nicht mehr.

    Breker: Ja. Die Rolle Mursis, Herr Lüders, gut, dass Sie das ansprechen. Das würde mich auch interessieren. Sie haben es gesagt: Er hat dieses Dekret, was ihn sozusagen über die Justiz gehoben hat, zurückgenommen zugunsten der Verfassung. Da stellt sich doch die Frage: Ist Mursi wirklich hier der große Akteur oder stehen noch Leute hinter ihm, zum Beispiel Führer der Muslimbruderschaft, die eigentlich erreichen wollen, dass die Verfassung, die ja dann die Vorrechte der Islamisten festschreibt, dass die durchkommt und Mursi ist eigentlich verzichtbar?

    Lüders: Ja in der Tat. Das ist das Ziel der Islamisten, der Muslimbrüder konkret. Sie wollen ihre Macht auf alle Zeiten, wenn es geht, festschreiben. Das können Sie aber nicht, weil die ägyptische Gesellschaft dieses Spiel nicht mitträgt. Die Muslimbrüder haben zwei Möglichkeiten: Entweder sie öffnen und demokratisieren sich oder aber sie werden politisch nicht bestehen in Ägypten. Und die Frage ist halt, welche Richtung, welche Denkschule sich bei den Muslimbrüdern durchsetzt. Ich habe den Eindruck, dass Mursi gelernt hat, dass er verstanden hat, dass er einen großen Fehler gemacht hat. Er hat den Bogen überspannt. Man muss allerdings auch andererseits sagen, dass die Opposition auch nicht immer gut beraten ist, den politischen Protest allein auf die Straße zu bringen und den Marsch durch die Institutionen zu scheuen. Es gibt keine einzige säkulare oder liberale Partei von Bedeutung in Ägypten, es gibt keine starke Gewerkschaft, es gibt keine zivilgesellschaftliche Organisation von Bedeutung. Jeder der unzufrieden ist mit den gegebenen Verhältnissen, geht in Richtung Straße, in Richtung Tahrir-Platz. Das funktioniert auch kurz- und mittelfristig, aber nicht auf Dauer. Es gibt keine geeinte Opposition, weil die Leute auch ihrerseits eine solche Pascha-Mentalität haben, gerne Führer sein wollen, aber nicht das Gemeinwohl notwendigerweise im Blick haben. Und diesen kulturellen Wandel, den muss Ägypten, den muss die arabische Welt vollziehen, und die Zeit drängt. Ägypten ist das zentrale Land in der arabischen Welt. Wenn in Ägypten die Demokratie scheitert, scheitert die Arabische Revolution auch in den anderen arabischen Ländern. Aber es ist zu früh, hier einen Abgesang auf die Arabische Revolution vorzubringen. Die Verhältnisse in Ägypten sind insoweit auf gutem Weg, als Mursi die Grenzen seiner Macht erfährt. Und das ist gut für Ägypten, das ist gut für die Zivilgesellschaft dort.

    Breker: Schauen wir noch kurz auf die Rolle des Militärs. Mursi hat heute das Militär ermächtigt, Zivilisten festzunehmen. Nur aus der Vergangenheit wissen wir, das Militär in Ägypten stand eigentlich noch nie aufseiten der Muslimbruderschaft.

    Lüders: Ja in der Tat! Die Armee hat sich hier bitten lassen und ist dem Ruf gerne gefolgt, weil sie auf diese Art und Weise ihre eigene Machtposition stärkt. Es gibt Spekulationen darüber, dass die Armee geneigt sein könnte, ihrerseits in die Politik einzutreten, etwa in Form eines Putsches. Davon kann aber wohl auf absehbare Zeit nicht die Rede sein. Die Armee wird sich davor hüten, dieses Chaos, das gegenwärtig in Ägypten herrscht, zu übernehmen und politisch zu verantworten. Es wird hinter den Kulissen sicherlich Absprachen geben und Mursi muss diesen Weg der Reformen weiter gehen. Es gibt keine Alternative zu ihm zum gegenwärtigen Zeitpunkt, auch nicht zu den Muslimbrüdern. Es ist die einzige Partei, die im ganzen Land aufgestellt ist und großen Rückhalt in der Bevölkerung genießt. Würden die Muslimbrüder scheitern, gäbe es ein Vakuum aufseiten der liberalen Kräfte. Das wäre dann die Stunde der Salafisten. Und das wollen die wenigsten Ägypter.

    Breker: Die Einschätzung des Nahost-Experten Michael Lüders. Danke für dieses Gespräch!

    Lüders: Vielen Dank!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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