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Nahost-Experte: Viele Ägypter wollen als Märtyrer kämpfen

Die Muslimbrüder haben zu erneuten Protesten nach den Freitagsgebeten aufgerufen. Bis zu 28 Prozent der Ägypter ständen hinter ihnen, sagt Günter Meyer, der Leiter des Mainzer Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt.

Moderation: Martin Zagatta | 12.07.2013
    Martin Zagatta: Ob die Lage in Ägypten so explosiv ist, dass es immer noch zu einem Bürgerkrieg kommen kann, das wird sich heute vielleicht schon zeigen, denn die Islamisten machen mobil. Die Anhänger des vom Militär gestürzten Präsidenten Mursi haben aufgerufen zu einem Marsch der Millionen auf Kairo, der heute nach den Freitagsgebeten beginnen soll.

    Verbunden sind wir jetzt mit Professor Günter Meyer, der an der Universität Mainz das Zentrum für Forschung zur Arabischen Welt leitet. Guten Tag, Herr Meyer!

    Günter Meyer: Guten Tag, Herr Zagatta!

    Zagatta: Herr Meyer, für wie explosiv halten Sie jetzt im Moment die Lage? Ist das so ein letztes Aufbäumen der Islamisten, oder könnte sich das doch noch zu einem Bürgerkrieg auswachsen?

    Meyer: Es ist nicht auszuschließen, dass es tatsächlich zu weiteren Unruhen kommt. Aber zumindest in der gegenwärtigen Lage ist davon auszugehen, dass gerade auch heute nach diesem Großaufruf es zu keiner Eskalation kommt. Die Muslimbrüder haben von vornherein gesagt, wir sind für Demokratie, wir sind gegen den Putsch und wir wollen keine Gewalt. Trotz alledem ist es nicht auszuschließen, dass angesichts der sehr angespannten Situation dann einzelne Gruppen sich abspalten und es tatsächlich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt.

    Aber im Prinzip sind die beiden Gruppen, sowohl die Unterstützer des Putsches, die sich vor allem auf dem Tahrir-Platz und um den Präsidentenpalast sammeln und dort ebenfalls zu Großdemonstrationen aufgerufen haben, und die Muslimbrüder, die um ihre Hauptmoschee Rabia al-Adawiyya sich versammelt haben, die sind deutlich räumlich getrennt, sodass hier zumindest die äußeren Bedingungen nicht auf eine Eskalation der Gewalt heute hindeuten.

    Zagatta: Jetzt gibt es ja eine Oppositionsallianz. So hören wir, dass die auch bereit scheint, sich an den Fahrplan zu halten, also eine neue Verfassung und dann Neuwahlen, an diesen Fahrplan, den die Militärs vorgegeben haben. Sind da die Muslimbrüder, die ja dagegen sind, mittlerweile isoliert, oder wie ist das einzuschätzen?

    Meyer: Nein. Die Muslimbruderschaft stützt sich auf hoch disziplinierte, hervorragend organisierte Mitglieder, deren Zahl auf mindestens 250.000 geschätzt werden. Das ist der harte Kern der Muslimbruderschaft. Aber es gibt sehr viele Sympathisanten, die durchaus ein religiös-islamisch geprägtes Ägypten wünschen und die hinter den Muslimbrüdern stehen. Das heißt, aufgrund von neuesten Umfragen, deren Genauigkeit und Repräsentativität nicht unbedingt überprüfbar ist, kommen wir auf einen Anteil von etwa 28 Prozent der ägyptischen Bevölkerung, die hinter den Muslimbrüdern steht. Aber das erscheint als eine Größenordnung, die durchaus realistisch ist. Und das sind auch diejenigen, die sagen, ja, wir haben jetzt der Demokratie Folge geleistet, unser demokratisch gewählter Präsident, der ist gestürzt worden. Vor dem Hintergrund sind wir nicht bereit, mit dieser neuen Regierung zusammenzuarbeiten.

    Es war ganz bezeichnend, dass die neue Regierung durchaus Ministerposten der Muslimbrüderschaft zur Verfügung stellen wollte, doch das wurde abgelehnt mit der Begründung, diese neue Übergangsregierung, die hier eingesetzt wird, die hat keinerlei rechtliche Basis, wir wollen den Widerstand fortsetzen, wir werden so lange weitermachen, bis Mursi, der rechtmäßig gewählte Präsident, wieder im Amt sitzt. Vor dem Hintergrund gibt es auch genügend Stimmen, die sagen, wir sind bereit, auch so für unseren Präsidenten zu kämpfen, dass wir im Endeffekt Märtyrer werden. Das heißt, der Kampf für ein religiöses Ziel, der steht hier im Vordergrund, und das bedeutet dann doch Gewaltanwendung. Einzelne Gruppierungen sind dazu sicherlich bereit.

    Zagatta: Wie sehen Sie denn als Experte, der sich schon lange mit diesem Land beschäftigt, die Rolle der Militärs? Sind das sozusagen die Retter des Landes, die sich dort einer zunehmenden Islamisierung in den Weg gestellt haben, oder sind das Putschisten, die einen gewählten Präsidenten gewaltsam aus dem Amt gedrängt haben?

    Meyer: Das Militär verfolgt ganz klar als stärkste Macht im Lande wirtschaftliche Zielsetzungen. Das Militär kontrolliert nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen zehn und 25 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts Ägyptens. Es verfolgt enorme wirtschaftliche Interessen und angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs unter der Herrschaft von Mursi war klar, dass diese wirtschaftlichen Interessen erheblichen Schaden genommen haben. Das Militär hat also dann dem Ruf des Volkes Folge geleistet und hat den Präsidenten ersetzt, wobei jetzt gerade das ganze als eine lang geplante Verschwörung dargestellt wird, nachdem noch bis zum Sturz Mursis lange Schlangen, kilometerlange Schlangen an den Tankstellen an der Tagesordnung waren, nachdem immer wieder Strom abgeschaltet worden ist, nachdem die Polizei sich nicht auf den Straßen hat sehen lassen, dementsprechend Verkehrschaos, wachsende Sicherheitsprobleme, steigende Kriminalität. Das galt bis zum Sturz von Mursi.

    Was wir jetzt erleben: Hoppla! Die Polizei ist wieder da, die langen Schlangen vor den Tankstellen sind verschwunden, es gibt keine Stromabschaltungen mehr, und das deutet doch darauf hin, dass das lange geplant war, um den Widerstand gegen das sozusagen unfähige Regime von Mursi zu steuern. Kräfte, so nimmt man an, die hinter dem alten Regime Mubarak stehen, gerade auch im öffentlichen Verwaltungsapparat, die haben darauf hingearbeitet, um auf diese Art und Weise die Wirtschaft des Landes zu stabilisieren, die Lebensverhältnisse zu verschlechtern. Und jetzt, nach dem Umsturz, tun sie alles, um die Situation wieder zu verbessern.

    Zagatta: Professor Günter Meyer war das von der Universität Mainz. Er leitet dort das Zentrum für Forschung zur Arabischen Welt. Herr Meyer, ganz herzlichen Dank für diese Einschätzungen.

    Meyer: Vielen Dank, Herr Zagatta.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.