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Nahost-Konflikt
"Militärisch wird es auf Dauer keine Lösung geben"

Israel sei schon mehrfach in den Gazastreifen einmarschiert und das habe nie zum erwünschten Erfolg - dem Stopp der Raketenangriffe - geführt, sagte Christian Sterzing, ehemaliger Leiter des Büros in Ramallah der Heinrich-Böll-Stiftung, im DLF. Der Schlüssel liege in einem Ende der Isolationsstrategie.

Christian Sterzing im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 16.07.2014
    Schweres Kriegsgerät an der Grenze zu Gaza.
    Israel zieht an der Grenze zum Gaza-Streifen Bodentruppen zusammen. (dpa / Atef Safadi)
    Sterzing sagte weiter, zudem müsse nach dem Versöhnungsabkommen von Fatah und Hamas politisch angesetzt werden. Der Wunsch nach Frieden sei groß bei den Palästinensern. Allerdings müsse das verknüpft werden mit einer Verbesserung der Situation im Gazastreifen und der Westbank. Auch die Hamas sei offen für eine Waffenruhe, wenn die Bedingungen stimmten.
    Der frühere Bundestagsabgeordnete der Grünen erinnerte daran, dass sich die Lage nicht erst seit der Ermordung dreier israelischer Jugendlicher verschlechtert habe. "Man kann die Erzählung auch an einem anderen Punkt beginnen." Im Mai seien zwei junge palästinensische Demonstranten erschossen worden, im Januar habe ein jüdischer Siedler zwei Kinder getötet. "Wir befinden uns in einer Spirale der Gewalt." Diese habe sich beschleunigt, weil sich Israel nicht an die Waffenstillstandsvereinbarung nach dem Gaza-Einmarsch 2012 gehalten habe.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: Auch wenn wir immer wieder hier im Deutschlandfunk Berichte und Reportagen im Programm haben, wie es den Menschen geht im Gazastreifen, aber auch den Israelis, die durch ständigen Raketenalarm in Angst und Schrecken versetzt werden, eigentlich ist es ja unvorstellbar. Tag für Tag schießt die radikal-islamische Hamas Raketen Richtung Israel und auch die israelischen Luftangriffe gehen jeden Tag weiter. Zivilisten, auch Kinder bezahlen den Konflikt mit dem Leben. Auch der jüngste Versuch der ägyptischen Regierung, wenigstens eine Waffenruhe zu erreichen, ist bisher gescheitert. Nach palästinensischen Angaben wurden inzwischen mehr als 190 Menschen getötet. Erstmals ist jetzt auch ein israelischer Zivilist durch eine Rakete getötet worden. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat am Abend eine Ausweitung der Offensive gegen die Hamas angekündigt, und zwar mit konkreten Folgen.
    Am Telefon begrüße ich jetzt Christian Sterzing, langjähriger Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah. Schönen guten Morgen, Herr Sterzing.
    Christian Sterzing: Schönen guten Morgen, Herr Heckmann.
    "Situation im Gazastreifen ist katastrophal"
    Heckmann: Herr Sterzing, die israelische Regierung hatte dem ägyptischen Waffenstillstandsplan ja zugestimmt, die Hamas lehnte ihn ab. Wollen die Palästinenser also keinen Frieden?
    Sterzing: Das kann man so sicherlich nicht sagen. Es geht um die Bedingungen, die Bedingungen für einen Waffenstillstand, denn natürlich hat die Hamas eine bestimmte Vorstellung. Es dreht sich, glaube ich, im Wesentlichen darum, die Blockade, die ja seit Jahren andauert, zu beenden, die sich ja in den letzten ein, zwei Jahren noch einmal verschärft hat, nachdem auch nun Ägypten die Grenze in den Gazastreifen dicht gemacht hat. Es geht der Hamas auch um Geld. Seit etwa neun Monaten erhalten die 40.000 bis 70.000 öffentlichen Bediensteten im Gazastreifen kein Gehalt oder nur Teile des Gehalts davon. Ich will damit nur andeuten, dass ein Waffenstillstand nach Vorstellung der Hamas auch zu einer Änderung der Situation im Gazastreifen führen muss, die wirklich katastrophal ist.
    Heckmann: Das heißt, Sie denken, wenn diese Bedingungen erfüllt wären, dann wäre die Hamas für einen Waffenstillstand zu haben?
    Sterzing: Das glaube ich auch nicht, weil natürlich auch Hamas nicht die Vorstellung hat, nun sozusagen den Nahost-Konflikt im Rahmen eines schnellen Waffenstillstandes zu lösen. Aber die Perspektive einer Veränderung der Situation ist wichtig für die Hamas, auch um die Glaubwürdigkeit gegenüber der Bevölkerung wieder etwas aufzubauen. Wir berichten ja hier in den Medien im Wesentlichen immer über die aktuelle Zuspitzung der Lage mit Beginn der Entführung und Ermordung von den drei jüdischen Siedlern im Juni.
    Gewalteskalation schon vor der Ermordung der Religionsschüler
    Heckmann: Den drei Jugendlichen.
    Sterzing: Ja, den drei Jugendlichen. Aber man kann natürlich auch diese Erzählung sozusagen an einem anderen Punkt beginnen. Man kann beginnen am 15. Mai, als zwei palästinensische Jugendliche erschossen worden sind bei Demonstrationen am sogenannten Nakba-Tag. Man kann beginnen im Januar, als zwei palästinensische Kinder erschossen wurden von einem jüdischen Siedler. All das findet in unseren Medien ja im Allgemeinen keinen Niederschlag und insofern befinden wir uns hier in einer Spirale der Gewalt, die nicht zuletzt auch sich sozusagen beschleunigt hat, weil sich Israel an die Waffenstillstandsbedingungen nach dem Gaza-Einmarsch im Jahre 2012 nicht gehalten hat, als es im Dezember begonnen hat wieder mit den gezielten Tötungen von Aktivisten im Gazastreifen.
    Hier ist eine kontinuierliche Verschlechterung der Situation im Gazastreifen, auch in der Westbank natürlich zu beobachten - ich will nur kurz erwähnen das Scheitern der sogenannten Friedensgespräche – und damit hängt das zusammen und insofern ist das Bedürfnis, der Wunsch nach Frieden bei den Palästinensern sicherlich sehr groß. Aber es muss verbunden sein mit einer Verbesserung der Situation für sie.
    Heckmann: Herr Sterzing, Sie haben die Bedingungen angesprochen, die die Hamas stellt. Im Zentrum steht hier ja in der Tat die Lockerung der Blockade des Gazastreifens. Ist das aus Ihrer Sicht in der Tat eine berechtigte Forderung, oder ist das eine Forderung, die einfach nur der Hamas gestatten würde, wieder für Nachschub zu sorgen, sich wieder mit neuen Raketen, über die sie ja zu Dutzenden, zu Hunderten verfügt, einzudecken?
    Sterzing: Ich glaube, wenn man sich militärhistorisch mit der Situation nicht nur im Gazastreifen, sondern auf der ganzen Welt beschäftigt, dann wird man feststellen, dass im Allgemeinen Waffenstillstände immer dazu dienen, die militärischen Voraussetzungen für die eigene Seite zu verbessern, also Waffen zu beschaffen, die Kräfte neu zu sortieren und so weiter, weil ja immer unsicher ist, was nach einem Waffenstillstand kommt. Ein Waffenstillstand soll zu einem Frieden führen, aber das tut er leider in den wenigsten Fällen, im Nahen Osten seit Jahrzehnten tut er das nicht. Insofern, glaube ich, soll man das nicht unnötig dramatisieren.
    Heckmann: Das heißt, die Lage könnte dann nach einem Waffenstillstand noch schlimmer sein als vorher, weil sich beide Seiten wieder organisiert haben, wieder ausgerüstet haben? Wäre dann ein Einmarsch, ein israelischer Einmarsch in den Gazastreifen, wie es ja auch von Außenminister Lieberman gefordert wird, aus Sicht der Israelis die bessere Alternative?
    Vier Menschen, darunter zwei Kinder, gehen mit gepackten Straßen auf einer Straße.
    Tausende Menschen im Norden Gazas haben ihre Häuser verlassen. (THOMAS COEX / AFP)
    "Isolationsstrategie beenden"
    Sterzing: Unter militärischen Gesichtspunkten sicherlich werden die Israelis auch diesmal feststellen, dass allein ein Bombardement aus der Luft nicht reicht, um die vorhandenen Raketenlager zu zerstören. Es muss eine Bodenoffensive stattfinden, um dieser Gefahr zunächst einmal ein Ende zu machen aus militärischer Sicht.
    Aus anderer Sicht, glaube ich, muss man aber auch sehen: In den letzten Jahrzehnten ist Israel mehrfach in den Gazastreifen einmarschiert. Es hat mehrfach solche militärische Aktionen wochenlanger Bombardements gegeben und es hat nie zu dem Erfolg geführt, nämlich dem erhofften Ende des Raketenbeschusses. Man müsste sich vielleicht politisch mal etwas überlegen, und ich glaube, der Schlüssel einer Veränderung der Situation, ich will gar nicht sagen, eines Friedens, aber der Schlüssel für eine Veränderung liegt zum einen in einer Beendigung der Isolationsstrategie gegenüber dem Gazastreifen und gegenüber Hamas und insbesondere aktuell in dem Versöhnungsabkommen vom April zwischen Hamas und Fatah. Hier politisch anzusetzen, das scheint mir wichtig. Militärisch wird es auf Dauer keine Lösung für diesen Konflikt und auch für die aktuelle Situation geben.
    Heckmann: Das heißt, ganz kurz zum Schluss noch, direkte Verhandlungen zwischen Jerusalem und der Hamas wären notwendige Voraussetzungen?
    Sterzing: Na ja, ich glaube, man kann nicht damit rechnen, dass sich Herr Netanjahu nun morgen zusammensetzt mit Herrn Haniyya und verhandelt. Das findet auf anderen diplomatischen Kanälen statt. Aber wir haben ein Versöhnungsabkommen, wir haben den Beginn der Umsetzung mit einer gemeinsamen Regierung, wir haben aus den USA, aus Europa die Bereitschaft, mit dieser Regierung zusammenzuarbeiten. Nur Israel boykottiert diese Zusammenarbeit, hat die Gelder, die es in den Gazastreifen transferieren muss, gestoppt, damit die Situation wieder im Gazastreifen enorm zugespitzt. Ich sprach an, dass da die Lohnzahlungen seit Monaten ausstehen.
    Hier gäbe es doch Möglichkeiten anzusetzen, dieses Abkommen zwischen Fatah und Hamas zu unterstützen, die Sicherheitskräfte auch im Gazastreifen zu stärken, indem man von der palästinensischen Autonomie Kräfte schickt, die dort die Grenzen sichern. Es gibt hier schon vielfältige Ansätze, die muss man wollen, und ich hoffe, dass die internationale Gemeinschaft sich gegenüber Israel einsetzt, denn die internationale Gemeinschaft hat, glaube ich, nun mittlerweile eingesehen, dass die Strategie der Isolierung, der Abschnürung des Gazastreifens und der Hamas zu nichts führt, sondern die Situation immer mehr und mehr schlimmer macht, insbesondere für die geplagte Bevölkerung im Gazastreifen.
    Heckmann: Der langjährige Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah, Christian Sterzing, war das hier live im Deutschlandfunk. Herr Sterzing, danke Ihnen für das Interview und auf Wiederhören!
    Sterzing: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.