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Natalie Beridze
Experimentelle Kompositionen, getaucht in Melancholie

Die georgische Musikerin Natalie Beridze brauchte nicht viel mehr als Laptop, Midi-Keyboard und Mikrofon, um ihre fragilen Sound-Skulpturen zu kreieren. Ihr neues Album "Guliagava" klingt beeinflusst vom westlichen TripHop der 1990er-Jahre und vom musikalischen Erbe ihrer Heimat.

Von Andi Hörmann | 28.05.2016
    Natalie Beridze mit ihrer Tochter und ihrem Lebensgefährten, dem Musiker und Filmemacher Nikakoi
    Natalie Beridze mit ihrer Tochter und ihrem Lebensgefährten, dem Musiker und Filmemacher Nikakoi (Foto: Andi Hörmann)
    Der Verkehr tost auf der zentralen Rustaveli Avenue in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Stickige Autoabgase, stumpfes Stimmengewirr, stechende Mittagssonne. An den Gebäudefassaden bröckeln florale Jugendstil-Ornamente. In einer belebten Seitenstraße liegt die Altbauwohnung der Musikerin Natalie Beridze: knarzender Dielengang, Brühkaffee in der Küche.
    Sonne dringt aus dem Innenhof über die für Georgien typischen Laubengänge in die Zwei-Zimmer-Wohnung. In einem fensterlosen Arbeitszimmer komponiert Natalie Beridze ihre durchdringend düstere Musik.
    "Das sieht wirklich unspektakulär aus. Das ist kein Studio, aber ich arbeite hier. Ich brauche eigentlich nur meinen Rechner, weil ich alles in Fruity Loops mache. Das ist so eine Software. Sehr viele Leute denken, dass es so eine Quatsch-Software ist, weil es wie so ein Kinderprogramm aussieht. So wird das gemacht: Bass zum Beispiel."
    "Wann ist denn für dich ein Stück fertig?"
    "Wenn du ein gutes Gefühl hast. Erst muss ich Harmonie aufbauen. Wenn es überhaupt eine Harmonie gibt. Dann muss der Rhythmus gemacht werden. Und dann die Dramaturgie. Und dann muss ich Lyrics schreiben, dann ist das fertig, dann kann ich es aufnehmen."
    Musikalisches Erbe aus Georgien schwingt mit
    Laptop, Midi-Keyboard, Mikrofon - mehr braucht Natalie Beridze für ihre Elektro-Pop-Chansons nicht. Ihre Musik klingt beeinflusst vom westlichen TripHop der 1990er-Jahre, doch das musikalische Erbe Georgiens schwingt da immer auch mit: Die großen Komponisten der Sowjetzeit, der traditionelle polyphone Gesang.
    "Georgische Folklore ist für mich ganz interessant - sehr sehr kompliziert und sehr einzigartig. Ich habe Schostakowitsch gehört. Ich war kein Kind mehr, aber ganz jung damals. Es war keine einfache Musik, aber irgendwie war ich sehr beeindruckt. Ich liebe diesen Komponisten. Er ist ein Genie, denke ich. Er hat einen unglaublichen Humor und ganz verrückte Harmonien."
    Die experimentellen Kompositionen der 1979 geborenen Natalie Beridze sind tief in Melancholie getaucht, klingen nach Schmerz, aber auch nach Sehnsucht und Schönheit - komponiert aus dem Schrecken der Vergangenheit, dem Zusammenbruch der Sowjetunion, den kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem übermächtigen Nachbarn Russland.
    "Es war gar nicht so schlimm für mich, aber für meine Eltern war das Horror. Manchmal gab es Zuhause gar nichts zum Essen. Und wenn ich jetzt zurückdenke und ich jetzt auch ein Kind habe, das musste für meine Eltern der Horror gewesen sein. Aber für mich war das nicht so schlimm. Nur wenn ich jetzt eine Bombe explodieren höre oder irgendjemand schießt, dann bin ich vielleicht nicht so panisch, weil ich irgendwie daran gewohnt bin."
    Fantasiewort "Guliagava"
    2003 veröffentlicht Natalie Beridze zum ersten Mal Musik in Deutschland. Zwei Jahre später findet sie auf dem Label Max Ernst von Thomas Brinkmann ein Zuhause für ihre Kompositionen und zieht in die Metropole der pulsierenden Techno-Szene Berlin. Doch sie kehrt wieder zurück zu ihren familiären Wurzeln, nach Georgien. In Tiflis lebt sie heute mit dem Musiker und Filmemacher Nikakoi zusammen. Der Titel ihres neuen Albums ist ein Fantasiewort, ihre Tochter Lea glaubte es in einem russischen Gute-Nacht-Lied zu hören: "Guliagava". Und irgendwie klingen die zehn Stücke auf dem Album alle nach Wiegenlied - manchmal nach Tagtraum, manchmal aber auch nach Albtraum.
    In diesen fragilen Sound-Skulpturen klingen sie noch heute nach, die Kriegsgräuel, die Not, das Leid der letzten Jahrzehnte. Verarbeitung, Verängstigung und Vertreibung in der Vergangenheit. Und die Misere der Gegenwart: Die Worte zu "Fishermen 2015" stammen etwa aus dem Abschiedsbrief eines im Mittelmeer ertrunkenen syrischen Flüchtlings.
    Musik wie Text, traurig-schön. Auf "Guliagava", dem neuen Album von Natalie Beridze verschwimmen schmerzhafte Emotionen in pulsierenden Kontrasten.