Mittwoch, 24. April 2024

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"Nathan der Weise"
Lessings Stück über religiöse Toleranz in Zürich

Alle Religionen sind gleich vor Gott und müssen ihren Wert durch ihr Tun beweisen - das ist die Botschaft von Gotthold Ephraim Lessings Ringparabel "Nathan der Weise" und derzeit wieder gefragt auf vielen Bühnen. In Zürich inszeniert Daniela Löffner das Werk, unser Autor Christian Gampert gibt eine Einschätzung, ob man was von dem Theaterabend lernt.

Von Christian Gampert | 06.03.2016
    Das Stück spielt während der Kreuzzüge, und Daniela Löffner beginnt ihre Inszenierung mit einem Kreuzzug der anderen Art: Das Haus des Nathan ist niedergebrannt, der Boden der Bühne voll schwarzer Asche. Schwarz gekleidete, vermummte Gestalten treten vor, breiten einen Gebetsteppich aus und werfen sich betend gen Osten nieder. Das geschieht mehrmals, fünf, sechs bedrückende Minuten lang, und aus dem Lautsprecher ruft der Muezzin.
    Die Entscheidung, den Islamischen Staat als Eroberer Jerusalems einzuführen, hat für die Inszenierung aber nur wenig Konsequenzen. Die Atmosphäre des Terrors, die dann herrschen müsste, wird nie hergestellt. Sultan Saladin sieht bei Klaus Brömmelmeier aus wie der frühere jordanische König Hussein; die Scharfmacherin ist seine Schwester Sittah, die sich von einer weißgewandeten Fechterin flugs in eine schador-tragende schwarze IS-Kämpferin verwandelt.
    Obwohl die Inszenierung mit schönen, melancholischen Stimmungen und über langen Strecken mit einer großen Langsamkeit arbeitet, gehen die psychologischen Veränderungen der Figuren viel zu schnell. Am deutlichsten und aufdringlichsten ist das beim Tempelherrn des Johannes Sima, ein soldatischer Jungspund im amerikanischen Tarnanzug - der das angebliche Judenmädchen Recha aus Nathans brennendem Haus rettet, ansonsten aber den bewährten christlichen Antisemitismus pflegt.
    Wenig später fällt dieser Tempelherr dem Nathan um den Hals, nennt ihn "Vater" und glaubt, ohne Recha nicht mehr leben zu können. Der Prozess, der ihn dahin bringt, bleibt in Zürich in lauter Vordergründigkeiten stecken.
    Daniela Löffner hat mehrere Preise bekommen und ist schwer gehypt worden; offenbar glaubt man, sie sei schon eine fertige Regisseurin. Diese Aufführung spricht dagegen: Zum Teil stehen und knien die Figuren posenhaft voreinander wie im Stadttheater der 50er-Jahre. Dass Löffner die christliche Erzieherin der Recha zum Mann uminterpretiert und von Gottfried Breitfuß spielen lässt, bringt keinen Mehrwert, im Gegenteil.
    Robert Hunger-Bühler als Nathan ist ungewohnt zahm, ganz zurückgenommen, suchend, alt. Das ideale Opfer, der ewige Außenseiter. Eine ganze Weile geht das gut, weil man hinter der gutwilligen Fassade eine Strategie vermutet. Aber nach der Ringparabel wird klar: Da kommt nichts mehr, die Figur ertrinkt in lauter Sentimentalitäten. Das ist schön fürs Parkett, das sich ja gern für den netten Juden von nebenan begeistert, aber schlecht für die Aufführung. Hunger-Bühler, der seinen Figuren sonst gern etwas Zynisches und Distanziertes mitgibt, bleibt hier ganz brav – statt die intellektuelle Überlegenheit des Nathan auszuspielen, seine Verletzungen zu zeigen, die Gebrochenheit der Figur zu untersuchen.
    Aber auch die Ringparabel ist auf perfide Weise misslungen. Der einsame Jude sitzt allein auf der Bühne auf einem Plastikstuhl, Saladin kommt von unten aus dem Saal und stellt seine diabolische Frage: Welche Religion ist die richtige. Das heißt, im Grunde wird das Publikum in die Position des Inquisitors gerückt. Wieso aber sollten wir über Nathan richten wollen? Auch der intellektuelle Trick der Ringparabel – von drei Ringen sind zwei Duplikate, aber nicht als solche erkennbar – wird in seiner Absurdität gar nicht analysiert. Keine Religion ist die richtige – aber in Zürich ist auch keine einzige Figur richtig besetzt: lauter frischgewaschene Jungmimen, die schön schau-spielen, aber nicht dahin gehen, wo es wehtut.
    Man könnte eine Liste machen, was alles nicht stattfindet in dieser Inszenierung. Kurz gesagt: Der ungeheure Hass der Religionen aufeinander, der sich in den Beziehungen spiegeln und durchgearbeitet werden müsste, ist nicht vorhanden. Jude erzieht Christenmädchen: Ungeheuerlich war das damals. Immerhin: Lessings Pseudo-Lösung, die erotische Attraktion zwischen der angeblichen Jüdin Recha und dem christlichen Tempelherrn in familiäre Geschwisterliebe umzubiegen, wird von der Regisseurin kalt abserviert. Und dann schneit es über Jerusalem, und wir sind so klug wie zuvor.