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Nathanael West
Jeder Gag eine schallende Ohrfeige für Hollywood

Mit "Der Tag der Heuschrecke" schrieb Nathanael West weniger einen Roman über Hollywood, als über Träume, die nichts weiter sind als Illusionen. Nun ist die lange überfällige Neuübersetzung erschienen.

Von Tobias Lehmkuhl | 07.04.2014
    Der Hollywood-Schriftzug in Los Angeles
    Träume werden in Hollywood auch zu Illusionen. (Jan-Martin Altgeld)
    "Von den Tempelstufen aus konnte er in der Ferne eine von lombardischen Pappeln gesäumte Straße erkennen. Es war dieselbe, auf der ihm die Kürassiere davon geritten waren. Er bahnte sich einen Weg durch Dornengestrüpp, alte Kulissen und Eisenschrott, schlug einen Bogen um das Gerippe eines Zeppelins, eine Bambuspalisade, ein Fort aus Lehmziegeln, das trojanische Holzpferd, die Treppenflucht eines Barockpalastes, das Skelett eines Dinosauriers, bis er dann endlich die Straße erreichte."
    Der schöne Schein ist nicht immer körperlos, im Gegenteil, auf dem Gelände einer großen Filmproduktionsfirma hinterlässt er deutliche Spuren, ausgemusterte Filmsets, die langsam vor sich hinrotten oder auf einen letzten Einsatz warten. Tod Hackett, Hauptfigur in Nathanael Wests "Der Tag der Heuschrecke", interessiert sich zumindest in diesem Moment nicht für das geradezu apokalyptische Durcheinander von Pappmaché-Architektur. Er, der auf dem Gelände als Kostüm- und Bühnenbildner arbeitet, jagt einer Frau hinterher. Sie heißt Faye, ist gerade als Statistin tätig und will naturgemäß ganz groß raugekommen. Aber ebenso wie Tods Wunsch, sie zu besitzen, sind ihre Träume vom Starruhm illusionär. Wie die Kinobesucher den galoppierenden Kürassieren und den Schnörkeln des ebenso falschen Barockpalastes auf der Leinwand, erliegen beide dem schönen Schein der kalifornischen Wirklichkeit.
    "Außer Atem setzte er sich unter einer der Pappeln auf einen Felsbrocken aus braunem Gips und zog sich das Jackett aus. Eine kühle Brise kam auf, und bald fühlte er sich wohler. In letzter Zeit hatte er nicht nur über Goya und Daumier nachgedacht, sondern auch über bestimmte italienische Künstler des 17. und 18. Jahrhunderts. Als er jetzt hügelabwärts sah, erblickte er Bildkompositionen, die in der Tat nach dem kalabrischen Werk Salvator Rosas hätten arrangiert sein können. Es gab halb zerstörte Gebäude und geborstene Denkmäler, da und dort von ausladenden Trauerweiden verdeckt, deren nackte Wurzeln sich dramatisch in den ausgetrockneten Boden krallten."
    Tod Hackett ist eigentlich Maler, zumindest plant er ein großes Gemälde, dass er "Der Brand von Los Angeles" nennt. Material für seine alttestamentarische Untergangsvision findet er auch außerhalb des Studiogeländes reichlich. Bei aller seiner Hellsicht ist er selbst gleichwohl Teil des allgemeinen Irrsinns und der Selbsttäuschung. Faye nämlich, die Möchtegernschauspielerin und Frau seiner Träume, ein großes Mädchen mit langen, schwertförmigen Beinen und einem säulenartigen Hals, ist im Grunde alles andere als begehrenswert, reine Fassade auch sie, deren phrasenhafte Worte nichts mit ihrer vor dem Spiegel angelernten Mimik zu tun haben.
    "Sie redete endlos weiter, erklärte ihm, wie Filmkarrieren gemacht werden und wie sie die ihre zu machen beabsichtige. Es war alles Unsinn."
    Und doch sind alle Männer in "Der Tag der Heuschrecke" - auch dieser Titel spielt auf die zehn Plagen des Alten Testaments an - scharf auf Faye. Irgendwann schlägt ihr unerfülltes Begehren in Besessenheit um. Und selbst Tod, der doch ein im Grunde hellsichtiger Beobachter und auf eine Weise das Alter Ego des Mitte der 30er-Jahre als Skriptautor in Hollywood lebenden Autors ist, entwickelt immer beängstigendere Fantasien.
    "Wenn er doch nur den Mut aufbringen könnte, ihr eines Abends aufzulauern, sie mit einer Flasche niederzuschlagen und sie zu vergewaltigen."
    Den zweiten großen Verehrer der hohlen Faye befallen solche Fantasien nicht. Homer Simpson, so heißt er wirklich, ist ein stiller Dulder, eine dumpfe Gestalt eigentlich, die man schupsen und schlagen kann. Und die dabei doch immer noch höflich lächeln wird. Einmal jedoch weint er.
    "Anfangs weinte er leise, dann lauter. Das Geräusch, das er machte, glich dem eines Hundes, der Haferschleim aufleckt."
    Allerdings, heißt es weiter, finden nur die, die noch Hoffnung haben, Trost in Tränen. Wenn diese versiegen, fühle man sich erleichtert. Aber den Hoffnungslosen wie Homer, die immer und überall leiden, seien Tränen keine Hilfe. Für sie ändere sich nichts. Normalerweise wüssten sie das auch, könnten die Tränen aber dennoch nicht zurückhalten.
    So mitleidslos Nathanael Wests seine Figuren unter die Lupe zu nehmen scheint, fühlt man als Leser doch mit ihnen. Mögen sie auch noch so verblendet oder unsympathisch sein, sie wirken doch von Fleisch und Blut, keine bloßen Schießbudenfiguren, die ihrem Autor dazu dienen, irgendwelche Ideen an ihnen zu exekutieren. Das liegt unter anderem daran, dass West es versteht, ihnen mit wenigen Strichen, mit ein oder zwei Attributen Leben einzuhauchen. Fayes säulenartiger Hals wurde schon erwähnt. Und liest man von einem ausgedörrten kleinen Mann mit verhärmten Gesichtszügen und den hängenden Schultern eines Postboten, hat man ihn ebenso vor Augen wie den Cowboy mit seinem zweidimensionales Gesicht, das, wie es heißt, ein talentiertes Kind mit Lineal und Zirkel gezeichnet haben könnte. Wests Meisterstück knapper Figurencharakterisierung ist fraglos die Zimmerwirtin Mrs. Johnson:
    "Mrs. Johnson konnte er nicht ausstehen. Sie war eine aufdringliche, übereifrige Frau mit einem weichen Bratapfelgesicht. Später sollte er herausfinden, dass ihr Hobby Beerdigungen waren."
    Neben Scott Fitzgeralds letztem, Fragment gebliebenen Roman "Der letzte Tycoon" gilt Nathanael Wests "Der Tag der Heuschrecke" als das große Buch über Hollywood. Dabei ist es vielmehr ein Buch über Träume, die nichts weiter sind als Illusionen, über Liebe, die nichts anderes ist als wildes Begehren. Es ist vor allem ein sehr amerikanisches Buch, ein Hard-Boiled-Krimi ohne Detektiv und ohne Mord, ein erbarmungsloser Blick auf unsere westliche Zivilisation. Jeder Satz ein Brennglas, jeder Gag eine schallende Ohrfeige.
    Nathanael West, das ist der Salvator Rosas, der Goya und Daumier des 20. Jahrhunderts. Und so, wie die alten Meister es verstanden, aus dem Grauen große Kunst zu machen, in der Groteske noch von Schönheit und Menschlichkeit zu träumen, so gelingt es auch West, den finalen Mahlstrom seines Buches - eine tödliche Massenpanik - in eine leuchtende Vision, in eben jenes Bild zu verwandeln, das seinem Helden vorschwebte.
    "Während Tod auf seinem gesunden Bein balancierte und sich verzweifelt ans eiserne Geländer klammerte, sah er all die groben Striche aus Zeichenkohle, mit denen er das Gemälde im Ganzen auf großer Leinwand skizziert hatte. Parallel zum Rahmen hatte er am oberen Rand die brennende Stadt gezeichnet, ein gigantischer Scheiterhaufen der Architektur, vom ägyptischen Stil bis hin zum Kolonialstil Cap Cods. Mittendurch zog sich von links nach rechts eine gewundene Hügelstraße, und darunter wälzte sich der Mob mit Baseballschlägern und Brandfackeln durch den mittleren Vordergrund. Erlöst von Langeweile, sangen, tanzten und jubilierten sie im roten Feuerschein der Flammen."
    Buchinfos:
    Nathanael West: "Der Tag der Heuschrecke", übersetzt von Klaus Modick. Manesse Verlag, Zürich, 262 Seiten, Preis: 19,95 Euro