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Nationale Kohorte
Pusten für die Forschung

Vor ein paar Wochen ist die sogenannte Nationale Kohorte angelaufen. Das ist die größte und umfassendste Langzeitstudie, die je in Deutschland durchgeführt wurde. Ihr Ziel: Risikofaktoren für häufige chronische Erkrankungen identifizieren, die Vorbeugung und Früherkennung verbessern. Ein Besuch im beteiligten Max-Delbrück-Centrum in Berlin.

Von Marieke Degen | 20.10.2014
    In der Martin-Luther-Universität Halle wertet Dr. Daniel Tiller am 07.08.2014 Aufnahmen von einem Bodyscanner aus. In einer bundesweiten Langzeitstudie werden rund 200 000 Menschen untersucht. Dadurch sollen Erkenntnisse über die Entstehung von Volkskrankheiten wie Diabetes, Demenz, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs gewonnen werden.
    Bodyscanner im Rahmen der landesweiten Langzeitstudie. (dpa / picture alliance / Waltraud Grubitzsch)
    "So jetzt Folgendes. Wenn Sie die Spirette im Mund haben, die Nasenklammer auf. Dann – ich führs auch gleich nochmal vor – dann einfach mal zwei bis dreimal ganz normal atmen, dann atmen Sie etwas tiefer aus."
    Ein Untersuchungszimmer im Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin. Eine zierliche Frau um die 50 hält ein Lungenfunktionsmessgerät in der Hand, hat das Mundstück fest mit ihren Lippen umschlossen, konzentriert sich auf die Anleitung der Studienassistentin Annelie Richter.
    "Ein und aus und ein und aus. Ein, tiefer ausatmen einatmen und raus raus raus raus - weiter weiter weiter weiter. Wunderbar, wunderbar, klasse. Es kommt immer noch was, immer noch was, und danke schön. Vielen Dank. Das war absolut klasse. Sie haben sich sogar noch etwas gesteigert."
    Vor ein paar Wochen hatte sie einen Brief bekommen. Dass sie per Zufallsprinzip ausgewählt wurde, als Probandin für die Nationale Kohorte, für die größten Langzeitstudie, die in Deutschland je stattgefunden hat. Wissenschaftler wollen die Ursachen für Volkskrankheiten besser verstehen, für Diabetes, Krebs, Herzkreislauferkrankungen, Demenz. Die Teilnahme ist freiwillig. Für die Berlinerin war klar, dass sie mitmacht.
    "Ja, weil's wichtig auch ist zu erforschen. Weil ich selber ja auch betroffen bin - ja ich hab' diesen Tumor, und da ist vielleicht, dass man da irgendwas rausfindet. Allgemein für Tumorpatienten. Oder auch für andere Krankheiten. Dass das über die Jahre hinweg mehr rausgefunden wird. Dass man den Leuten helfen kann. Besser. Intensiver."
    Jetzt wird sie von Kopf bis Fuß untersucht. Ihre Zähne werden gezählt, ihre körperliche Fitness vermessen, ihr Blut analysiert und für mindestens 50 Jahre eingelagert, für künftige genetische Untersuchungen. Später wird sie am Computer noch Fragen zu ihrem Lebenswandel beantworten: über ihre Kindheit, ihren Beruf, wie oft sie Sport treibt, ob sie Drogen nimmt.
    "Es ist sehr umfassend, ja. Die Untersuchung dauert zweidreiviertel Stunden – bei einer großen Untersuchung kann das auch bis zu sechs Stunden dauern," sagt die Studienassistentin Annelie Richter.
    "Ich würd Sie jetzt bitten, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen."
    Untersuchungen über 20 Jahre hinweg
    Alle Daten werden für die Nationale Kohorte pseudonymisiert, so dass sie nicht den richtigen Namen zugeordnet werden können. Weitergeleitet werden sie nicht. Die Teilnehmer dürfen ihre Untersuchungsergebnisse aber mitnehmen, wenn sie möchten, und sie an ihren Hausarzt weitergeben.
    "Und dann würde ich Sie bitten, während der Untersuchung nicht zu sprechen, sich nicht zu bewegen und nicht zu schlafen"
    200.000 Menschen sollen für die Nationale Kohorte untersucht werden – allein hier am Max-Delbrück-Centrum sind es 10.000. Nach fünf Jahren werden die Probanden wieder eingeladen, ihr gesundheitlicher Werdegang wird mindestens 20 Jahre lang nachverfolgt. Jetzt, in der ersten Phase, werden an den Studienzentren erstmal nur Daten gesammelt. Die Auswertung wird erst in ein paar Jahren stattfinden. Einige der 200.000 Probanden werden im Laufe der Zeit an Krebs oder Demenz erkranken. Und dann können Forscher mit Hilfe der Daten prüfen, ob es Faktoren gibt, die mit der Krankheit korrelieren – bestimmte Umwelteinflüsse etwa, oder bestimmte Varianten im Erbgut.
    "Es ist eine große Hoffnung, dass man auch neue Risikofaktoren entdecken kann, auf der anderen Seite gibt es eine ganze Reihe von Faktoren, die wir kennen, die aber noch nicht ausreichend charakterisiert sind," sagt Tobias Pischon, Epidemiologe und Studienleiter der Nationalen Kohorte Berlin-Brandenburg. Am Max-Delbrück-Centrum werden einige Probanden sogar im Magnetresonanztomografen durchleuchtet. Die Wissenschaftler interessieren sich da besonders für sogenannte subklinische Befunde: Das sind kleine Veränderungen im Körper, die zwar keine Symptome hervorrufen – die aber vielleicht doch eine klinische Bedeutung haben könnten.
    Hoffnung auf neue Erkenntnisse
    "Gerade beispielsweise vom Gehirn gibt es durchaus Veränderungen im Gehirn, die sich klinisch nicht manifestieren. Also es gibt so genannte Läsionen, white matter lesions, das sind also an der weißen Gehirnsubstanz Veränderungen, die beim Menschen klinisch nicht in Erscheinung treten. Und die Frage ist, ob diese frühen Veränderungen möglicherweise darauf hinweisen, dass später, nach zehn, 20 Jahren, dass dann vermehrt Erkrankungen auftreten. Beispielsweise neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer oder anderes."
    Die Untersuchungen sind umfangreich – bei der Nationalen Kohorte werden wesentlich mehr Daten erhoben als bei anderen Langzeitstudien, die oft nur auf Fragebögen setzen. Doch es gibt auch Grenzen: Die Teilnehmer dürfen keinen unnötigen Risiken ausgesetzt werden. Beim MRT werden zum Beispiel keine Kontrastmittel eingesetzt. Die Forscher könnten damit zwar noch mehr erkennen, aber sie könnten Nebenwirkungen haben.
    "Und jetzt möchte ich Sie bitten, mir so viele verschiedene Tiere zu nennen, wie Ihnen einfallen. Sie haben eine Minute Zeit ab jetzt."
    Die Probandin heute muss sich nicht in den Magnetresonanztomografen legen.
    "Elefant, Affe, Zebra, Krokodil, Papagei, Hund, Katze, Maus, Igel, Pferd, Schlange, Zebra, Schildkröte."
    Sie kämpft sich gerade durch eine ganze Palette Kognitionstests. Es geht um Merkfähigkeit und geistige Fitness.
    "Ich spiele Ihnen jetzt Zahlenreihen vor, die Sie jetzt in umgekehrter Reihenfolge wiederholen. Wenn Sie beispielsweise 3 7 hören, dann sagen Sie:
    – 7 3. Ich hab jetzt nur überlegt, ob ich dreiundsiebzig oder siebenunddreißig sagen soll...
    Nein, nur umgekehrte Reihen – was heißt nur (lachen) das wird immer länger.
    - ja, das ist schon klar (lachen)
    ok?
    - Ja.
    (aus dem Lautsprecher)
    3 5.
    5 3.
    3 7 4.
    4 7 3. (....)"
    Mehr als 200 Probanden haben sie hier, am Max-Delbrück-Centrum, schon untersucht. Die meisten, die angeschrieben werden, kommen auch – wie die Probandin heute, auch wenn sie am Anfang ein bisschen Bammel hatte.
    "Man weiß ja nicht, was einen erwartet, oder was auf einen zu kommt. Aber war alles super bis jetzt. War nicht so schlimm, wie ich gedacht hab."
    In fünf Jahren, sagt sie, kommt sie gerne wieder.