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Nationalismus
Europa braucht eine gemeinsame Perspektive

Der Publizist Reinhold Vetter liefert mit "Nationalismus im Osten Europas" eine Analyse rechtspopulistischer Strömungen in ehemaligen Ostblockstaaten. Anhand der Parallelen zu ähnlichen Bewegungen im Westen fordert Vetter eine gesamteuropäische Perspektive und eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe.

Von Michael Bisping | 24.04.2017
    Jaroslaw Kaczynski, Vorsitzender der Regierungspartei PiS, im polnischen Parlament.
    Reinhold Vetter beschreibt, wie Kaczyński die Ängste und Empfindungen großer Teile der Bevölkerung aufnimmt und sich zunutze macht (imago/Eastnews)
    Man könnte das Buch von Reinhold Vetter als "wohltuend" bezeichnen. In der oft hitzigen, von Vorurteilen und irrationalen Ängsten getragenen Debatte über Nationalismus und Rechtspopulismus in Europa fällt es positiv auf. Durch seine besonnene und sachliche Form.
    Der in Warschau und Berlin lebende Vetter, ehemaliger ARD-Korrespondent in Polens Hauptstadt, liefert die besten Argumente, die man für eine Diskussion über ein so aufgeladenes Thema liefern kann: Fakten. Sehr viele Fakten und Hintergrundinformationen.
    "Ich finde einfach, dass man konkret erklären muss, wie sich z.B. nationalkonservative Politiker in Polen, in Ungarn verhalten, wie sich Nationalkonservative nationalistische, rechtsradikale Strömungen verhalten, und das kann man am besten dadurch, dass man das an Beispielen erläutert, diese Beispiele dann aber auch einsortiert, zusammenfasst und Schlussfolgerungen zieht. Ich finde, so muss ein politisch-historisches Buch aussehen."
    Polen und Ungarn widmet Vetter den deutlich größten Anteil seiner Analyse. Doch er liefert auch Bestandsaufnahmen anderer Staaten des ehemaligen Ostblocks: Kroatien, Tschechien, Slowakei, Slowenien und die Baltischen Staaten.
    Regimewechsel und andere nationalistische Ziele
    Beispiel Polen. In enormer Materialfülle schildert Vetter die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Zeichnet nach, wie der Vorsitzende der PiS-Partei Jarosław Kaczyński zum starken Mann des Landes werden konnte und konsequent seine nationalistischen Ziele und Werte verfolgt.
    "Jarosław Kaczyński und seine nationalkonservativen Mitstreiter interpretieren ihre Wahlsiege des Jahres 2015 freimütig als Auftrag der ganzen polnischen Nation, einen starken zentralisierten Staat mit autoritären Zügen aufzubauen, einen systematischen Elitenwechsel zu vollziehen und eine 'moralische Wende' in Staat und Gesellschaft einzuleiten."
    Detailliert schildert der Autor, wie Kaczyński und seine PiS-Partei diese "moralische Wende" durchzusetzen suchen: Repressalien gegen kulturelle Einrichtungen und Medien. Oder: Ein neues Polizeigesetz, das Behörden weitgehende Abhörbefugnisse einräumt. Oder: Die Bemühungen, das Verfassungsgericht gegenüber Legislative und Exekutive zu schwächen und zu behindern.
    Die Strategien des Populismus'
    Vetter beschreibt, wie Kaczyński die Ängste und Empfindungen großer Teile der Bevölkerung aufnimmt und sich zunutze macht: Die Verachtung vieler Menschen gegenüber politischen Eliten etwa, die oft als korrupt und arrogant empfunden werden. Oder: Das Gefühl, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus' durch ein neoliberales Wirtschaftssystem sozial abgehängt worden zu sein. All das resultiert bei vielen Menschen in der Abneigung gegenüber einer liberal, demokratisch und pluralistisch orientierten Europäischen Union, der Kaczyński ein völkisches "Wir-Gefühl" entgegensetzen will.
    Zur Pflege dieses "Wir-Gefühls", so zeigt Vetter, dient vielen Ländern eine Berufung auf "nationale Traumata": Ereignisse, bei denen die Nation eine empfindliche Kränkung erlitten hat, die als Ressentiment nun regelrecht "gepflegt" wird. Beispiel Ungarn. Der Vertrag von Trianon vom 4. Juni 1920, mit dem das stolze kaiserliche Ungarn der Donaumonarchie sich praktisch auflöste. Was Westeuropäern heute nichts mehr sagt, ist für das Selbstverständnis - und Selbstbewusstsein - der Ungarn bis heute eine nicht zu unterschätzende Demütigung.
    "Für Viktor Orbán ist Trianon immer wieder Anlass, um an die damalige Schmach zu erinnern, und zu betonen, dass es seine Fidesz-Regierung sei, die Ungarn wieder zu politischer und kultureller Größe und Bedeutung verhelfe. In diesem Zusammenhang erklärte die Orbán-Regierung den 4. Juni zum neuen Nationalfeiertag."
    Vetter nennt weitere Beispiele typisch rechtspopulistischer Methoden, um das nationale "Wir-Gefühl" zu stärken: Die Projektion von eigenen Ängsten und Sorgen auf "die Anderen", also Abgrenzung und Fremdenfeindlichkeit.
    "Länder wie Polen, Ungarn, sind Länder, die fast keine Erfahrung haben mit außereuropäischen Flüchtlingen. Das ist in Deutschland anders. Ein einfacher Katholik irgendwo in Ostpolen, für den ist das Auftauchen eines Muslims eine existenzielle Bedrohung! Und das muss man wissen, um solche Phänomene einschätzen zu können."
    Diese, man könnte fast sagen, "empathische Methode", gehört zu den Stärken von Vetters Buch.
    Die gesamteuropäische Perspektive
    Im zweiten Teil weitet der Autor den Blick von Ost- nach Westeuropa: Vetter vergleicht typische Anzeichen nationalistischer Gesinnung der postkommunistischen Länder mit parallelen Strömungen im Westen: Le Pen, Wilders, AfD und anderen Rechtspopulisten.
    Im Schlussteil seines Buches holt er aus zu einem eindringlichen Appell pro Gesamt-Europa: Nur dort lasse sich das ernste Problem Nationalismus diskutieren und in den Griff bekommen. Diese gesamteuropäische Diskussion sei dringend erforderlich. Sonst, so der besorgte Autor, drohe Europa zu zerbrechen. Um das zu verhindern, müsse man aber auch in Westeuropa für eine Diskussion auf Augenhöhe offen sein: Für die vielen eigenen Versäumnisse und Fehler ebenso wie für die Ängste und Befindlichkeiten großer Teile der europäischen Bevölkerung, die sich in rechtspopulistischen Parteien organisieren oder ihnen folgen. Das heißt, auch mit diesen Parteien zu sprechen, seien es die PiS-Partei und der Fidesz in Osteuropa, seien es der Front National oder die AfD in Westeuropa.
    "Ich finde, man muss mit denen reden. Man darf die nicht einfach nur ausgrenzen, das bringt nichts. Dann wachsen sie weiter. Es ist eine Frage der politischen Auseinandersetzung."
    Ein solcher Dialog setze eine politische Zielvorgabe voraus, eine gesamteuropäische Perspektive.
    "Ich verlange von einem guten Politiker, nennen wir es strategisches Konzept. Wollen wir nur einen Binnenmarkt, oder wollen wir ein Europa der Vaterländer, oder wollen wir eine zentrale europäische Regierung? Also es muss klarer sein: Wohin soll der europäische Zug fahren?"
    Vetters Buch endet nicht versöhnlich oder beruhigend, sondern mahnend. Seine Sorge um nationalistische Tendenzen und die Stabilität Europas bleibt bei seinem Appell nach einer europaweit geführten Diskussion sehr deutlich. Der sachliche Ton des Buches lässt diese Sorge nur deutlicher hervortreten. Manchem mag sein Buch vielleicht zu sachlich, fast spröde erscheinen, stellenweise fast wie eine kommentierte akademische Materialsammlung. Doch gerade deshalb ist "Nationalismus im Osten Europas" lesenswert. Ein Sachbuch im besten Sinne.
    Reinhold Vetter: "Nationalismus im Osten Europas. Was Kaczynski und Orbán mit Le Pen und Wilders verbindet."
    Ch. Links Verlag, Berlin. 224 Seiten, 18 Euro