Samstag, 20. April 2024

Archiv


Nationalsozialismus und Philosophie

Der französische Historiker Emmanuel Faye meint, das Denken des Philosophen Martin Heideggers habe von Anbeginn an darauf abgezielt, die "nationalsozialistische Weltanschauung" in die Philosophie zu überführen. Der Frankfurter Philosoph Alfred Schmidt unterzieht Fayes Buch einer kritischen Untersuchung.

Eine Rezension von Alfred Schmidt. / Redakteurin am Mikrofon: Karin Beindorff | 30.01.2006
    Karin Beindorff:
    Am Vorabend seines 80. Geburtstages im September 1969 antwortete Martin Heidegger im Fernsehen auf recht verklausulierte Fragen des Philosophen Richard Wisser.

    O-Ton Wisser/Heidegger
    " Ihre Philosophie im Hinblick auf eine konkrete Gesellschaft, eine Gesellschaft mit konkreten Nöten und Sorgen, mit Hoffnungen und mit Erwartungen und mit Aufgaben, wirksam werden oder aber haben diejenigen Ihrer Kritiker recht, die behaupten, Martin Heidegger sei so konzentriert mit der Frage nach dem Sein beschäftigt, dass er die conditio humana, das Sein des Menschen, in Gesellschaft und als Person dran gegeben habe.
    - Diese letzte Kritik ist ein großes Missverständnis, denn die Seins-Frage und die Entfaltung dieser Frage setzt ja gerade eine Interpretation des Daseins voraus, d.h. des Wesens des Menschen. Und der Grundgedanke meines Denkens ist ja gerade der, dass das Sein bzw. die Offenbarkeit des Seins den Menschen braucht und dass umgekehrt der Mensch nur Mensch ist, insofern er in der Offenbarkeit des Seins steht. Damit dürfte die Frage, wie weit ich nur mit dem Sein beschäftigt bin und den Menschen vergessen habe, erledigt sein."

    Karin Beindorff:
    Heideggers Verhalten in der Nazizeit kam in diesem Gespräch nicht zur Sprache, man ruderte im allgemeinen Verhältnis zwischen Philosophie und Gesellschaft herum. Die Kontroverse um den in der ganzen Welt rezipierten Philosophen und sein Eintreten für die nationalsozialistische Bewegung und ihren Führer Anfang der 30er Jahre, sie kommt langsam ins Rentenalter, doch sie erhitzt immer wieder aufs Neue die Gemüter. In Frankreich erschien im vergangenen Jahr eine Studie, die behauptet, Heidegger habe den Nationalsozialismus in die Philosophie eingeführt. Die Auseinandersetzung mit dieser Untersuchung steht im Mittelpunkt der heutigen Sendung. Dann stellen wir Ihnen einen erst kürzlich entdeckten französischen Roman aus den frühen 40er Jahren vor, der vom besetzten Frankreich und der Kollaboration handelt. Und zum Schluss besprechen wir heute zwei Bücher, die sich mit dem Nahost-Konflikt, der israelischen Besetzung Palästinas und dem heiklen Thema deutscher Kritik an israelischer Politik befassen.

    1927 erschien Martin Heideggers Werk "Sein und Zeit" und machte den Autor mit einem Schlag berühmt. Bis heute gilt das Buch als eines der einflussreichsten der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Heidegger versuchte, die akademische Schulphilosophie durch eine Philosophie der Konkretion des lebendigen Lebens zu überwinden. Sein Begriff der Geschichtlichkeit, als Bedingung der Möglichkeit von Geschichte, schien zu versprechen, dass sich Philosophie künftig aus ihrem Verständnis der unmittelbar erlebten Wirklichkeit definieren werde. Die Uneindeutigkeit des Begriffs der Geschichtlichkeit vermochte Intellektuelle aller möglicher politischer Couleur anzuziehen: Heideggers Fundamentalontologie traf die diversen Schichten des Zeitgeistes der Zwischenkriegsjahre ganz offenkundig mitten ins Gemüt. Karl Löwith hatte bei Heidegger studiert und beschrieb in seinen Erinnerungen die Persönlichkeit des berühmten Lehrers:

    "Gefesselt von dem energischen Ernst dieses kleinen, großen Mannes, den wir seit "Sein und Zeit" den Zeitweisen nannten, verbrachte ich viele Jahre in der unfruchtbaren Bemühung um ein menschliches Verhältnis zu einem Menschen, dessen Leben sich in der Abwehr persönlicher Verbindlichkeiten verschloss und der nur in seiner Vorlesung, begrifflich verklausuliert, an alle und keinen zu adressieren beliebte, was er dem einzelnen unter vier Augen nicht sagen konnte und wollte. Die Technik seines Vortrags bestand im Aufbau eines Gedankengebäudes, das er dann selbst wieder abtrug, um den gespannten Zuhörer vor ein Rätsel zu stellen und im Leeren zu lassen. Diese Kunst der Verzauberung hatte mitunter höchst bedenkliche Folgen: Sie zog mehr oder minder psychopathische Existenzen an, und eine Studentin nahm sich nach drei Jahren Rätselraten das Leben."

    Karin Beindorff:
    Als Heidegger 1934, im Jahr nach seinem Eintritt in die NSDAP, zum Rektor der Freiburger Universität gewählt wurde, hielt er in seiner Antrittsrede eine Eloge auf die nationalsozialistische Bewegung und ihren Führer. Doch das Regime des Postkartenmalers aus Braunau entpuppte sich in der Wirklichkeit als Konglomerat aus deutschtümelnder Biederkeit und Vernichtungswahn. Heidegger, dessen jüdische Schüler wie Herbert Marcuse, Karl Löwith oder Hannah Arendt längst ihr Überleben durch die Flucht zu sichern suchten, zog sich von seinem Ausflug in die Politik wieder zurück, ohne jedoch aus der Partei auszutreten. Bis zu seinem Tod 1969 hat er verweigert, sich zu seinem Verhalten zu äußern, gar sich zu rechtfertigen oder sich zu distanzieren. Diese Haltung fiel im Nachkriegsdeutschland auf fruchtbaren Boden. Heidegger wurde ebenso wie Ernst Jünger und Carl Schmitt, mit denen er den Hang zur Verachtung der Demokratie ebenso wie den ideologischen Antikommunismus teilte, zum geschätzten Intellektuellen der Rechten. Heideggersche Denkfiguren wie auch seine Sprache waren schulbildend geworden. Theodor W. Adorno hat 1964 der Heideggerei in seinem "Jargon der Eigentlichkeit" ein profundes Denkmal gesetzt. Darin urteilt er:

    "Gewalt wohnt wie der Sprachgestalt so dem Kern der Heideggerschen Philosophie inne: der Konstellation, in welche sie Selbsterhaltung und Tod rückt."

    Karin Beindorff:
    Noch 1969 fand sich in Deutschland kein Verlag, der die kritische Abrechnung des chilenischen Heidegger-Schülers Victor Farías mit seinem Lehrer drucken wollte. Sie erschien damals zuerst in Frankreich, dort, wo sich nach dem Krieg zahlreiche Intellektuelle auf den Autor von "Sein und Zeit" bezogen haben. Und wiederum in Frankreich ist im vergangenen Jahr ein Buch erschienen, das die Kontroverse um den deutschen Philosophen erneut angefacht hat. Der in Paris-Nanterre lehrende Historiker Emmanuel Faye versucht darin auf fast 600 Seiten zu belegen, dass Heidegger den Nationalsozialismus in die Philosophie eingeführt habe. Für uns hat der Frankfurter Philosoph Alfred Schmidt Fayes Studie einer kritischen Untersuchung unterzogen.

    Beitrag Alfred Schmidt

    Drei deutsche Philosophen beherrschen die intellektuellen Debatten der französischen Nachkriegsgeschichte: Husserl, Heidegger und Hegel. Unter ihnen war und ist der Autor von Sein und Zeit die umstrittenste, aber auch faszinierendste Figur. Heideggersche Motive tauchen auf im Für und Wider wechselnder Kontexte: bei Jean Paul Sartre, Jacques Derrida, Michel Foucault und selbst im "Antihumanismus" von Luis Althusser. Im Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus sollte eine an Martin Heidegger orientierte Hermeneutik zu weltweiter Wirkung gelangen. Offenbar vermochte, was akribische Untersuchungen seit langem über Heideggers nationalsozialistische Verstrickung ermittelt und gebrandmarkt hatten, den zählebigen Ruhm seines Werks nicht zu schmälern. Er setzte recht eigentlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Namhafte Gelehrte, darunter Schüler Heideggers, haben – ohne jedes politische Zugeständnis – die bedenkenswerten Lehrgehalte seiner Philosophie streng unterschieden von zeitgeschichtlich gefärbten Expektorationen, mit denen der Freiburger Professor die Heraufkunft des autoritären Staates begrüßte. Peinlich bemüht, sich den neuen Machthabern zu empfehlen, hat Martin Heidegger sich nach 1933 als linientreuen Parteigenossen betrachtet. Doch gab es hier, worauf Karl Löwith, ein verlässlicher Zeuge, hinweist, von vornherein gewisse Zweideutigkeiten. Selbst die berüchtigte, Hitlers Politik feiernde Rektoratsrede von 1934 enthält keine lupenrein nationalsozialistische Botschaft. Man habe, so berichtet Löwith, nach dem Vortrag geschwankt, "ob man Diels’ Vorsokratiker in die Hand nehmen soll oder mit der S.A. marschieren". Noch immer wird darüber debattiert, wie Heideggers politisches Selbstverständnis angesichts der weithin anerkannten Tatsache zu beurteilen sei, dass der sachliche Ertrag seiner Philosophie entschieden hinaus geht über ihr ideologisches, inzwischen erledigtes Beiwerk.

    Dass Heidegger bestrebt war, der neuen Staatsraison in Forschung und Lehre vorbehaltlos zu dienen, wurde, nachgewiesen in jahrelangen Diskussionen, zum bleibenden Makel seines Namens. Er geriet in den Sog eines nationalistischen, schon im Jahrzehnt nach Versailles sich ankündigenden Zeitgeists, dessen Parolen er bereitwillig übernahm. "Kampf", "Opfer", "Schicksal" und "Volksgemeinschaft" gehörten fortan zu seinem Vokabular. Hätte es mit dieser Rhetorik sein Bewenden, so wäre Heidegger längst vergessen. Davon kann keine Rede sein. Die internationale Wirkungsgeschichte seines monumentalen Werks ist ebenso unabgeschlossen wie die Kontroverse über sein Bekenntnis zu Führer, Blut und Boden.

    Ein im Frühjahr vorigen Jahres bei Albin Michel in Frankreich erschienenes Buch unternimmt es, die Frage nach dem "politischen" Heidegger völlig neu aufzurollen. Mit erheblichem philologischen Aufwand versucht Emmanuel Faye auf nahezu 600 Seiten, dem programmatischen Titel seiner Schrift Heidegger. L’introduction du nazisme dans la philosophie gerecht zu werden. Das gelingt ihm freilich nur um den Preis der gewaltsam verfochtenen These, Heideggers gesamte Philosophie sei nahezu ausschließlich sub specie seiner Vorträge, Vorlesungen und Seminare zu beurteilen. Damit setzen sich differenzierende, auf Texte verweisende Einschätzungen des Heidergger’schen Werks sogleich dem Verdacht aus, ein Denken zu rechtfertigen, das von Anbeginn darauf abgezielt habe, Philosophie in "nationalsozialistische Weltanschauung" zu überführen. Diese Weltanschauung nun, nach gegenwärtigem Forschungsstand ein schwammiges, machtpolitischen Interessen unterworfenes Gemisch ideologischer Fertigteile, gewinnt in Fayes Buch eine begriffliche Stringenz, die ihr während der Diktatur niemals zukam. So hielt Hitler, offenen Konflikt mit den Kirchen scheuend, es für opportun, Rosenbergs Mythus des XX. Jahrhunderts nicht in die Liste "parteiamtlichen Schrifttums" aufzunehmen.

    Wenn Fayes unerbittliche Kritik an Heidegger dem dubiosen Begriff "nationalsozialistische Weltanschauung" mehr Kohärenz zubilligt, als seine historische Rolle gestattet, so entspricht das seiner rein geistesgeschichtlichen Methode, die außer Stande ist, vorzustoßen zu den realen Tiefenstrukturen der Epoche nach dem Ersten Weltkrieg. Soziologische und ökonomische Gesichtspunkte werden von Faye nicht berücksichtigt. Er entnimmt die Maßstäbe seiner Absage an Heidegger nicht, wie zu erwarten, der Problematik neuerer Ontologie, sondern eigenen Studien zur Frühen Neuzeit, veröffentlicht 1998 unter dem Titel "Philosophie und die Perfektion des Menschen. Von der Renaissance bis Descartes". Hierauf kommt Faye im Heideggerbuch zurück, wo er dessen Absicht, seinen intellektuellen Werdegang skizzierend, wie folgt schildert:

    "Indem wir einen völlig anderen Weg einschlugen, haben wir unsere Forschungen lange auf das humanistische Denken konzentriert, um den bemerkenswerten Beitrag zur modernen Philosophie so verschiedener Denker wie Charles de Bovelles, Michel Montaigne und René Descartes aufzuzeigen, die es verstanden haben, die Entwicklung des menschlichen Seins und dessen eigenständige Vollendung zu erhellen, ohne es einzusperren in eine starre Doktrin oder in ein System."

    Andererseits, fährt Emmanuel Faye fort, sei man der Frage nachgegangen, worin die wesentlichen Voraussetzungen bestehen, die ein Werk wie das Heidegger’sche ermöglichen. Dieses, so lautet Fayes Vorwurf,

    "fügt sich in jene Linie der im Dienst menschlicher Entwicklung stehenden Philosophie nicht ein, sondern war, im Gegenteil, bestrebt, deren wesentlichen Ertrag zu zerstören."

    Für Faye dokumentiert sich Heideggers Affinität zur völkischen Weltanschauung nicht zuletzt in seiner Distanz von den cartesianischen Grundlagen des naturwissenschaftlich-technischen Zeitalters. Faye beanstandet, dass Heidegger, dem lebensphilosophischen Historismus Wilhelm Diltheys folgend, von der Vernunft als kalkulatorischer Denktätigkeit übergeht zur geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Philosophie, betont Dilthey, erhält so eine völlig neue Basis und Aufgabe:

    "Nicht die Annahme eines starren a priori unseres Erkenntnisvermögens, sondern allein Entwicklungsgeschichte, welche von der Totalität unseres Wesens ausgeht, kann die Fragen beantworten, die wir alle an die Philosophie zu richten haben."

    Heidegger wird in Sein und Zeit die von Descartes bis Husserl unerschütterte Herrschaft des "ego cogito" beseitigen und vorstoßen zur ungeschmälerten Konkretion des geschichtlich handelnden Menschen. Entstehen Sinn und Bedeutung erst mit ihm, so ändert sich, was Faye scharf kritisiert, der Begriff von Metaphysik. Wird die Metaphysik bei Aristoteles und Descartes als Wissenschaft der höchsten Prinzipien und ersten Ursachen verstanden, so ist sie bei Heidegger als Inbegriff des Seienden im Ganzen allemal verbunden mit "Macht" und "Subjektivität" im Sinn "gegenständlicher Tätigkeit", wie sie uns bei Marx und Nietzsche als welthistorische Einsicht entgegentritt. Und schon in Hegels Phänomenologie des Geistes wird sie in dem Satz vorweggenommen, es gelte, die Substanz als Subjekt auszudrücken. Mit nationalsozialistischer Ideologie hat, was Faye unterstellt, dieser veränderte Begriff von Metaphysik nichts zu tun.

    In einer erdrückenden Fülle von Zitaten, die er im deutschen Original in Fußnoten belegt, sucht Faye den völkischen Kern des Heidegger’schen Denkens nachzuweisen. Belanglose, stets wiederkehrende Bekenntnisse zu "Führer", "Volk" und "Reich" betrachtet Faye als ernstzunehmende, genuine Bestandteile der Philosophie Heideggers. Obwohl der Untertitel seiner Schrift sich auf unveröffentlichte Materialien von Seminaren der Jahre 1933–1935 bezieht, geht Faye aufs Ganze. So bildet die Gesamtausgabe Heideggers, von der 102 Bände erschienen sind, für Faye eine Fundgrube politischer Äußerungen, die geeignet sind, Heideggers Philosophie endgültig zu diskreditieren.

    Der Heidegger von 1933, davon ist Faye überzeugt, ist der wahre Heidegger. Während der zwanziger Jahre habe er, der Karriere zuliebe, seine schon immer völkische Gesinnung gegenüber der akademischen Welt verschwiegen. Dies zu glauben, fällt schwer angesichts der von Faye ausgeblendeten Tatsache, dass Sein und Zeit als diagnostische Analyse der Gegenwart wie als radikaler Neuanfang des Philosophierens in beiden politischen Lagern hoch geschätzt wurde. Rudolf Bultmanns Programm der "Entmythologisierung" des neutestamentlichen Kanons, die er als dessen "existentiale Interpretation" versteht, greift methodisch auf Heidegger zurück. Ludwig Binswanger, der zum Freundeskreis Sigmund Freuds gehört, wendet die Daseinsanalytik von Sein und Zeit psychotherapeutisch und begründet eine psychiatrische Anthropologie, die sich ausdrücklich auf Heideggers Existenz-Denken und Husserls Phänomenologie beruft. Karl Löwith, ein philosophischer Weggenosse Heideggers, hat in seinen Schriften den Einfluss des Lehrers weder geleugnet noch erlag er seiner Suggestion. Als der für die Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts bedeutsamste unter den kritischen Schülern Heideggers hat Herbert Marcuse, sein Assistent, 1928 in seinen Beiträgen zur Phänomenologie des Historischen Materialismus das Buch seines Lehrers als "Wendepunkt in der Geschichte der Philosophie" gefeiert. Es bezeichne, heißt es hier,

    "den Punkt, wo die bürgerliche Philosophie sich von innen her selbst auflöst und den Weg frei macht zu einer 'konkreten’ Wissenschaft."

    Marcuse schwebte hier eine materialistisch gewendete Daseinsanalytik vor. Heideggers "Geschichtlichkeit" schien auf die revolutionäre Möglichkeit zu verweisen, Geschichte im Hier und Jetzt als Weise unseres realen Seins zu erfassen und die Gegenwart als zu gestaltende Geschichte. Heideggers Schrift bot sich Marcuse zufolge einer marxistischen Rezeption auch insofern an, als sie die Möglichkeit eröffnete, mit dem historischen Kontinuum zu brechen. Heidegger spricht vom "Dasein überhaupt", wenn er es sich zugute hält, den leibhaftigen Menschen in seiner konkret-geschichtlichen Situation entdeckt zu haben. Marcuse dagegen denkt hier an das revolutionäre Proletariat. Dass sein Lehrer einige Jahre später von "deutschem Dasein" sprechen würde, konnte er nicht ahnen. Marcuses erster Aufsatz in der Zeitschrift für Sozialforschung von 1934 zeugt von der bitteren Enttäuschung eines enthusiastischen Schülers:

    Der Existenzialismus bricht zusammen in dem Augenblick, da sich seine politische Theorie verwirklicht. Der total-autoritäre Staat, den er herbeigesehnt hat, straft alle seine Wahrheiten Lügen... Er begann philosophisch als eine große Auseinandersetzung mit dem abendländischen Rationalismus und Idealismus, um dessen Gedankengut wieder in die geschichtliche Konkretion der Einzelexistenz hineinzuretten. Und er endet philosophisch mit der radikalen Verleugnung seines eigenen Ursprungs; der Kampf gegen die Vernunft treibt ihn den herrschenden Gewalten blind in die Arme. In ihrem Dienst und Schutz wird er nun zum Verräter an jener großen Philosophie, die er einst als den Gipfel des abendländischen Denkens gefeiert hatte.

    Theodor W. Adorno, auch er ein Begründer der Frankfurter Schule und Kritiker Heideggers, wird von Faye, einem Mann des schroffen Entweder/Oder, souverän übergangen. Immerhin widmet Adorno den ersten Teil seiner Negativen Dialektik der Heidegger’schen Philosophie und entdeckt im zweiten Teil seines Werks gewisse Analogien zwischen Heidegger und Marx.

    "Der Ausdruck Sein bei Marx und Heidegger bedeutet gänzlich Verschiedenes, obzwar nicht ohne alles Gemeinsame: in der ontologischen Doktrin der Priorität von Sein vor Denken, seiner 'Transzendenz', hallt aus weitester Ferne das materialistische Echo nach. Ideologisch wird die Doktrin vom Sein, indem sie das materialistische Moment im Denken durch seine Transposition in reine Funktionalität jenseits alles Seienden unvermerkt vergeistigt, wegzaubert, was dem materialistischen Seinsbegriff an Kritik falschen Bewusstseins innewohnt."

    Freilich ist dem Brief über den Humanismus an den Übersetzer Beaufret von 1946 zu entnehmen, dass Heidegger Begriffe wie "Sein" oder "Sorgestruktur des Daseins" weniger spirituell verstanden hat, als dies Adornos Kritik nahe legt. Heidegger tritt hier für ein "produktives Gespräch" mit dem Marxismus ein, das damit zu beginnen hat,

    "dass man sich von den naiven Vorstellungen über den Materialismus und von den billigen Widerlegungen, die ihn treffen sollen, freimacht. Das Wesen des Materialismus besteht nicht in der Behauptung, alles sei nur Stoff, vielmehr in einer metaphysischen Bestimmung, der gemäß alles Seiende als das Material der Arbeit erscheint. Das neuzeitlich-metaphysische Wesen der Arbeit … ist Vergegenständlichung des Wirklichen durch den als Subjektivität erfahrenen Menschen. Das Wesen des Materialismus verbirgt sich im Wesen der Technik, über die zwar viel geschrieben, aber wenig gedacht wird."

    "Metaphysisch" ist Heideggers Verständnis der menschlichen Arbeit insofern, als diese in ihrer welthistorischen Rolle das Seiende im Ganzen erfasst. Eine sachliche Nähe Heideggers zu Marx besteht darin, dass er "Technik" im Sinn eines epochalen, Ökonomie und Kultur umfassenden Welt-Entwurfs versteht. Hiervon lässt Herbert Marcuse – der erste "Heidegger-Marxist" – sich leiten in seinem Werk "Der eindimensionale Mensch" von 1964. Vom planetarischen Charakter der sich ausbreitenden Technik hat Heidegger lange vor den heutigen Debatten über die "globalisierte Welt" gesprochen. Was ihm von Faye als Menschenfeindlichkeit angekreidet wird, ist als Kritik des imperialen Programms der bürgerlichen Neuzeit zu verstehen. Dass wir, wie Descartes sich ausdrückt, durch Wissenschaft zu "Meistern und Besitzern der Natur" werden, hat der Menschheit wie der Natur nicht nur zum Vorteil gereicht.

    Mit alldem wird nicht das Unentschuldbare beschönigt. Die Verstrickung Heideggers in die Zeitläufte nach dem Ersten Weltkrieg ist offenkundig. Gleichwohl hat er versucht, seine Philosophie aus den Bruchstücken ihrer schmerzlich missglückten Politisierung zu retten. Emmanuel Fayes’ inquisitorisches Buch ist nicht bereit, Heidegger dies zuzugestehen.

    Alfred Schmidt besprach: Heidegger. L’introduction du nazisme dans la philosophie, erschienen im Verlag Albin Michel in Paris. Das Buch hat 574 Seiten und kostet 29 Euro.