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Nationalsozialismus
Vom leisen Untergang des Judentums

Tagebücher geben Auskunft über Ereignisse, die in keinem Geschichtsbuch stehen. So auch die Aufzeichnungen einer jungen niederländischen Studentin und eines deutschen Studienrats: Zeugnis grausamer Ausgrenzung und gnadenloser Verfolgung der Juden unter den Nazis.

Von Kirsten Serup-Bilfeldt | 02.12.2013
    Das Tagebuch der Anne Frank kennt jeder. Aber kaum jemand weiß, dass in Amsterdam auch ein anderes junges jüdisches Mädchen Tagebuch schrieb: Etty Hillesum. Vor 70 Jahren wurde sie in Auschwitz ermordet. Und Willy Cohn schildert in seinen Aufzeichnungen den Untergang des deutschen Judentums.
    Etty Hillesum
    "Amsterdam, 31. Dezember 1941. Wir bummelten durch die Straßen und ich hing auf komplizierte Art an seinem Arm, die Kosakenmütze schief auf meinem Kopf und er mit der komischen Baskenmütze auf seiner grauen Mähne. Ein wunderliches Liebespaar. Und jetzt ist es schon halb neun. Der letzte Abend eines Jahres, das für mich das reichste und auch glücklichste von allen vorvergangenen Jahren war."
    Das schreibt die 26-jährige Etty Hillesum zum Jahreswechsel 1941/42 in ihr Tagebuch. Etty ist Jüdin und lebt in Amsterdam – zum Zeitpunkt der Aufzeichnungen schon kein angenehmer Aufenthaltsort mehr, denn seit Mai 1940 stehen die Niederlande unter deutscher Besatzung. Antisemitische Gesetze sind erlassen, überall im Land werden Juden unterdrückt und entrechtet.
    Diese Ereignisse werden in dem Tagebuch zwar erwähnt, kommen aber nur als Randerscheinungen vor. Sie stehen nicht im Zentrum der oft noch sorglos scheinenden Berichte. Im Zentrum steht dagegen ein Mann, in den sich Etty kurz zuvor verliebt hat – der Psychologe Julius Spier: ein jüdischer Emigrant aus Deutschland, über 25 Jahre älter als Etty und eine schillernde Figur. Nicht nur unterhält er eine stattliche Anzahl "Frauengeschichten", sondern er hat auch eine recht umstrittene Methode entwickelt, die die Psychologie mit der Kunst des Handlinienlesens verbinden soll. Spier hat Etty ermuntert, Tagebuch zu führen. Er selbst kommt darin nur unter dem Buchstaben "S." vor.
    "Liebe ich S.? Ja, irrsinnig. Es ist aber eine komplizierte Sache. Er strahlt viel Wärme aus, der man sich ohne Hintergedanken überlässt. Aber zugleich sitzt dort ein großer Kerl mit einem ausdrucksvollen Kopf und empfindsamen Händen und mit Augen, die einen wirklich herzbewegend streicheln können. Unpersönlich streicheln, wohlverstanden! Er streichelt den Menschen nicht die Frau."
    Willi Cohn
    "Breslau, 31. Dezember 1940, Silvesterabend. Die Gedanken gehen rückwärts und vorwärts. Rückwärts zu manchem vergnügten Sylvestern in meinen geliebten schlesischen Bergen, in denen ich gerne wieder einmal wäre. In das Jahr 1941 gehe ich mit einer kleinen, törichten Hoffnung."
    Diese Zeilen notiert der Breslauer jüdische Studienrat Willy Cohn zum Jahreswechsel 1940/41, in sein Tagebuch – ein Jahr bevor Etty Hillesum ihre Aufzeichnungen beginnt. Beide Tagebücher sind erst spät entdeckt worden. Das von Etty Hillesum in den 1980er-Jahren, das von Willy Cohn 20 Jahre früher. Auch sind beide nur auf Umwegen an die Öffentlichkeit gelangt. Freunde hatten Etty Hillesums neun engbeschriebene Hefte nach ihrem Tod in Auschwitz aufbewahrt und sie später mehreren Verlagen angeboten. Doch über 40 Jahre lang schien niemand an einer Veröffentlichung Interesse zu haben.
    Cohns Niederschriften tauchen 1960 auf. Der Historiker Walter Laqueur schreibt über sie: "Cohn war mein Lehrer am Johannes-Gymnasium in Breslau. Hochgebildet und beliebt. Im Juni 1933 verließ er uns. Er war sowohl politisch als auch 'rassisch' nicht mehr tragbar. Dann hörte ich nichts mehr von ihm. Er hatte wohl nicht überlebt. Doch in den 1960er-Jahren kam ein Gerücht auf, das besagte, Willy Cohn habe ein Tagebuch geführt, das auf eigenartige Weise erhalten geblieben war – ein einmaliges Zeugnis über die letzten Jahre des deutschen Judentums."
    Tagebücher sind immer eine Quelle persönlicher Befindlichkeit. Sie geben Auskunft über Ereignisse, die in keinem Geschichtsbuch stehen, sie sind immer ein Spiegel ihrer Epoche, aber auch ein Nebeneinander von "Ich" und "Welt". Und oft ist es gerade diese Welt, die in Aufruhr geratene Welt, die die Schreiber motiviert. Denn es gilt, gerade diesen Aufruhr zu dokumentieren.
    Die Tagebücher der jungen niederländischen Studentin und des gestandenen deutschen Studienrats tun genau das. Dabei sind sie völlig unterschiedlicher Natur, öffnen dem Leser zwei sehr unterschiedliche Welten: Etty Hillesums Notizen dokumentieren eine innere Entwicklung, einen seelischen Reifeprozess. Dagegen schildern Willy Cohns Aufzeichnungen, die bis auf einen Band erhalten sind, den beinahe leisen Untergang des deutschen Judentums, die schleichende, schrittweise Entrechtung, die Infamie der Ausgrenzung, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedrückungen:
    "Breslau, 27. Januar 1934. Beim Abendbrot bekam ich einen Brief von unserem Hauswirt, dass er die Wohnung anderweitig vermietet hat. Es hat mich sehr erschüttert, denn ich hänge unglaublich an der Wohnung und wäre gern darin geblieben. Wenn er auch an und für sich nett geschrieben hat, so hätte er mich doch, bevor er die Wohnung anderweitig vermietet, vorher noch einmal fragen können."
    Persönliche Chroniken alltäglicher Verfolgung
    "30. Mai 1942. Die kleinen Grausamkeiten häufen sich immer mehr. Wenn ich die Straßen entlanggehe, weiß ich von vielen Häusern, dort ist der Sohn im Gefängnis, dort wird der Vater als Geisel gehalten, dort ist das Todesurteil eines 18-jährigen Sohnes zu beklagen. Und diese Straßen und Häuser liegen ganz in der Nähe meines Hauses. Ich kenne die Verzweiflung der Menschen, ich weiß um das menschliche Leid, ich weiß von Verfolgung und Unterdrückung, von Willkür und ohnmächtigem Hass."
    Immer öfter treten Etty Hillesum und Willy Cohn ihre ganz private Flucht an: in Bücher, Philosophie, Literatur, Musik, das Niederschreiben der eigenen Beobachtungen. Und doch bleibt es eine Flucht ohne Zuflucht. Die Schlinge um die niederländischen Juden zieht sich immer weiter zu. Von 1942 an müssen sie den gelben Stern tragen; bald darauf werden sie in das Transitlager Westerbork deportiert, die letzte Station vor ihrem Transport nach Auschwitz:
    "3. Juli 1942. Ich habe unserem Untergang ins Auge geblickt, unserem vermutlich elenden Untergang, der sich jetzt schon in vielen Kleinigkeiten des täglichen Lebens ankündigt. Ich bin nicht verbittert, ich bin auch nicht mutlos und schon gar nicht resigniert. Meine Entwicklung geht von Tag zu Tag ungehindert weiter, auch mit der Möglichkeit der Vernichtung vor Augen."
    Die Schoah ist in Etty Hillesums Texten präsent, ist aber nicht der dominierende Faktor. Diese eher geringe Verbindung der Notizen mit der grausamen Realität unterscheidet Ettys Tagebuch so nachhaltig von den Aufzeichnungen Willy Cohns:
    "Fräulein Silberstein erzählte, dass die Leute beim Abgeben ihrer Radios so schlecht behandelt worden sind. Sie mussten stundenlang stehen und den alten Baumeister Ehrlich fragte man, wer er sei, und als er sagte: 'Regierungsrat Baumeister a. D. Ehrlich', erwiderte der Beamte: 'Wieder einer, der sich in eine Beamtenstellung hineingeschoben hat". Gestern war Lebensmittelausgabe für Juden. Sie haben uns alle Abschnitte, auf denen es Sonderzulagen wie Reis oder Kakao gibt, gestrichen."
    Solch persönliche Chroniken, solch individuelle Stimmen seien die unmittelbarsten Zeugnisse von Ereignissen, die in anderen Quellen oft kaum wahrgenommen würden, hat der Historiker Saul Friedländer geschrieben:
    "Sie bestätigen Ahnungen wie Blitzlichter, die Teile einer Landschaft erhellen, die uns vor vorschnellen Verallgemeinerungen warnen und die Selbstgefälligkeit wissenschaftlicher Distanziertheit durchbrechen. Oft wiederholen sie lediglich was bereits bekannt war, aber sie drücken es mit unvergleichlicher Eindringlichkeit aus."
    Am 17. November 1941, wenige Tage vor seiner Deportation ins litauische Kaunas schreibt Willy Cohn:
    "Mit dem Vorsitzenden der Gemeinde gesprochen, der zuerst sehr unangenehm war, dann aber, als ich mir nicht alles gefallen ließ, einlenkte. Zuerst sagte er, dass bei der Geheimen Staatspolizei keine Möglichkeit bestände."
    Kein Weiterleben vergönnt
    An dieser Stelle, mitten im Satz, bricht das Tagebuch ab. Am 29. November 1941 wird Willy Cohn, zusammen mit seiner Familie nach der Ankunft in Kaunas erschossen.
    "Ich möchte lange leben und wenn mir das nicht vergönnt ist, nun, dann wird ein anderer mein Leben von dort an weiterleben, wo das meine unterbrochen wurde."
    Das "Weiterleben" ist Etty Hillesum nicht vergönnt. Am 7. September 1943 geht sie vom Transitlager Westerbork auf einen Transport nach Auschwitz. Am 30. November 1943 wird sie dort ermordet.