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NATO-Chef Stoltenberg ein Jahr im Amt
Der wahre Test kommt erst noch

Er gilt als im Ton moderater als sein Vorgänger, aber in der Sache nicht weniger deutlich: Seit einem Jahr ist Jens Stoltenberg nun Generalsekretär der NATO. In seinem ersten Amtsjahr musste er sich vor allem mit dem Verhältnis zu Russland auseinandersetzen - gemessen werden wird er in dem Zusammenhang vor allem an der schnellen Einsatztruppe.

Von Kai Küstner | 01.10.2015
    Der designierte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
    NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg (AFP / NTB Scanpix / Hakon Mosvold Larsen)
    Besonders viel Zeit blieb Jens Stoltenberg nicht, sich vor einem Jahr in seinen neuen Job gemütlich einzuarbeiten - geschweige denn: allzu viele Gedanken an die Auswahl der Möbel in seinem neuen Büro zu verschwenden. Zu dicht schien die Bedrohung an Europa, an die NATO-Länder herangerückt zu sein. Schuld daran waren: die mordende Terror-Miliz IS in Syrien und im Irak. Und das fast schon auf ‚Kalter-Kriegs-Niveau' heruntergekühlte Verhältnis zu Russland:
    "Ich bin in einer Welt aufgewachsen, die sich zeitweise genauso gefährlich anfühlte wie die, in der wir jetzt leben."
    Gleich in seiner ersten wichtigen Rede nach seinem Amtsantritt nahm der Norweger seine Zuhörerschaft mit auf eine Reise in die Zeit des Kalten Krieges. Und in seine Kindheit:
    "Ich wusste nicht viel über Artikel 5 oder den Vertrag von Washington. Aber ich wusste, dass die NATO da war, um uns zu beschützen."
    Mehr leitender Angestellter als Chef?
    Vielleicht musste das sein - das Bild des kleinen Jens, der mit ganz viel Urvertrauen in das Militärbündnis ausgestattet ist: um all die Rest-Zweifler zu beruhigen, die überall gelesen hatten, dass die NATO nun einen Generalsekretär hatte, der als Heranwachsender einst lautstark gegen das Bündnis demonstriert hatte. Jedenfalls entwickelte Stoltenberg - Jahrgang '59 - schon in dieser ersten Rede jenes Motto, das zu einer Art Leitfaden seiner bisherigen Amtszeit geworden ist:
    "Nur eine starke NATO kann eine vernünftige Beziehung zu Russland aufbauen."
    Diesen Satz wiederholt Stoltenberg in seinen ersten Wochen so oft, bis ihn alle gehört hatten. So oft er dabei das Wort von der ‚starken NATO' in den Mund nahm - so überdeutlich auch die Hand, die der Norweger in Richtung Russland ausstreckte. Wodurch er sich - zumindest im Tonfall - von seinem Vorgänger, dem Dänen Rasmussen, unüberhörbar unterschied:
    "Er spricht seltener, und wenn er spricht, tut er das moderater. Er ist in der Sache sehr deutlich - auch gegenüber Russland. Da ist er auch kein Kind von Traurigkeit. Aber das wird alles sozial-verträglicher rübergebracht."
    Erklärt der Sicherheitsexperte Jan Techau von der Ideenfabrik ‚Carnegie Europe' in Brüssel. Der meint: Das mit dem Tonfall gelte sowohl nach außen - in Richtung Russland - als auch nach innen. Für den Umgang mit den Staats- und Regierungschefs der NATO-Länder. Stoltenberg habe, sagt Techau, besser als sein Vorgänger verstanden, dass er als Generalsekretär mehr leitender Angestellter als Chef des Ladens sei. Mehr Sekretär als General - sagen andere. Was das Verhältnis zu Russland angeht, so habe die NATO aber einen Fehler begangen:
    "Was man versäumt hat, ist den NATO-Russland-Rat zu benutzen als Forum des Dialogs. Es ist kein Kanal, den der Westen nutzen kann. Ich bin der Meinung, es war ein Fehler, den auszusetzen. Jetzt ist es schwierig, den zu reaktivieren."
    Er war nie Taube und wird vermutlich trotzdem nie Falke werden
    Gleichzeitig ist unbestritten, dass Stoltenberg sich im abgelaufenen Jahr intensiv darum bemüht hat, die eisig gewordenen Kanäle zu Russland nicht dauerhaft zufrieren zu lassen: Wie aus Bündnis-Kreisen verlautet, suchte er immer wieder das Gespräch mit dem russischen NATO-Botschafter. Was ihn nicht davon abhielt, auch deutlich Worte zu finden, wenn sie aus seiner Sicht angebracht schienen. Ende Mai dieses Jahres war es so weit:
    "Dass Russland in letzter Zeit nukleare Rhetorik benutzt, atomare Übungen und Operationen durchführt, ist tief beunruhigend. Dass Präsident Putin zugegeben hat, während der Krim-Annexion die Atomwaffen in Alarmbereitschaft zu versetzen, ist nur ein Beispiel. Russland hat auch die Anzahl und Reichweite von Flügen seiner mit Nuklear-Waffen bestückbaren Bomber weltweit ausgeweitet. Russlands nukleares Säbelrasseln ist ungerechtfertigt, destabilisierend und gefährlich."
    Während aus NATO-Sicht klar war, dass der Generalsekretär das russische Verhalten nicht unkommentiert lassen konnte, horchten andere verwundert auf: Diejenigen, die anfangs vermutet hatten, mit Stoltenberg habe sich sozusagen eine Friedens-‚Taube' auf dem NATO-Dach niedergelassen, beanstandeten nun, er habe sich innerhalb kürzester Zeit rhetorisch in einen angriffslustigen ‚Falken' verwandelt.
    Beides wird Stoltenberg nicht gerecht: Er war nie Taube und wird vermutlich trotzdem nie Falke werden. Das Flug-Revier, das er in seinen ersten Amtstagen abgesteckt hatte, hat der Generalsekretär in seinem ersten Jahr nie verlassen: ‚stärke die NATO - und rede trotzdem mit Russland'.
    Ein NATO-Manöver in Polen. Hier trainierte im Sommer - erstmals ernsthaft - die sogenannte ‚super-schnelle Eingreiftruppe': jene neu geschaffene Feuerwehreinheit, die im kommenden Jahr rund 5.000 Mann stark sein soll. Binnen 48 Stunden sollen im Ernstfall hunderte Soldaten bereit stehen, um dahin geflogen zu werden, wo's brennt. Die NATO-Truppe war nicht Stoltenbergs Idee - ist nun aber zu seiner Herausforderung geworden, an der er gemessen werden wird.
    "Wenn wir es mit einem Fall von hybrider Kriegführung zu tun haben - wo auch immer..."
    Hier muss der Haupteinsatzplaner der superschnellen Eingreiftruppe, Colonel Lewicki, eine Denkpause einlegen. Er sagt nicht: ‚eine Art von Kriegführung, wie wir sie gerade vonseiten Russlands in der Ukraine erleben.' Sondern er sagt einfach nur: Er hoffe, dass die abschreckende Wirkung der Truppe reiche, um eine Bedrohung aufzuhalten.
    Der wirkliche Test kommt noch
    Das Wort Russland muss gar nicht fallen. Aber natürlich dient die auch ‚Speerspitze' genannte Truppe der Beruhigung etwa der baltischen NATO-Staaten. Für den Fall, dass Präsident Putin auf die Idee kommen könnte, auch dort russische Minderheiten retten zu wollen, soll er wissen: dann bekommt er es mit 28 NATO-Staaten zu tun. Auch wenn derzeit kaum jemand ernsthaft glaubt, dass er dies tun könnte - die ‚Speerspitze' ist der wohl wichtigste Bestandteil der beim NATO-Gipfel in Wales beschlossenen Maßnahmen zur ‚Rückversicherung', zur Stärkung der östlichen Bündnispartner. Die Stoltenberg nicht mitbeschlossen hat, die er nun aber umsetzen muss:
    "Das ist sehr teuer, sehr aufwendig - und nur wirksam, wenn man es nicht nur ein Jahr macht oder zwei, sondern es auf längere Sicht aufrecht erhält. Das hat die NATO aber bislang viel auf die Beine gestellt. Auch weil NATO-Länder, die sonst eher zurückhaltend sind wie die Deutschen, da in Vorleistung gegangen sind."
    Der wirkliche Test, meint Sicherheitsexperte Techau, komme für Stoltenberg erst noch: wenn die super-schnelle Eingreiftruppe im kommenden Jahr einsatzbereit sein soll. Dann dürfte nämlich nicht nur die Frage gestellt werden, ob sie wirklich super-schnell ist. Bis dahin wird der Mann an der NATO-Spitze weiter vermitteln müssen: zwischen den einen, die meinen, das Bündnis rassle durch die rasant gestiegene Zahl von NATO-Übungen und der verstärkten Präsenz in Osteuropa selbst zu sehr mit dem Säbel. Und den anderen, die sich wünschen, die NATO täte noch viel mehr. Und dann sind da ja noch die - insbesondere südeuropäischen - Staaten, die finden, Osteuropa bekomme derzeit viel zu viel Aufmerksamkeit - und Geld. Genau wie er begann, wird Jens Stoltenbergs Job auch bleiben: fordernd. Er ist ein Kind des Kalten Krieges, der genau dahin nicht zurück möchte - in den Kalten Krieg. Ohne genau zu wissen, ob das funktioniert.