Dienstag, 19. März 2024

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"Natürlich ist er haltbar"

Im Streit um den Auftritt des stellvertretenden Bundesbeauftragten für Kultur und Medien vor Opfern des NS-Konzentrationslagers Buchenwald hat sich der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Peter Steinbach, vor Hermann Schäfer gestellt. Es sei ganz sicherlich "eine Ungeschicklichkeit, die er begangen" habe. Das Problem hänge aber eher mit Art der deutschen Erinnerung zusammen. Diese sei ungeheuer komplex, weil es viele Leidensgeschichten nebeneinander gebe, so Steinbach.

Moderation: Dirk-Oliver Heckmann | 30.08.2006
    Dirk-Oliver Heckmann: Noch war die Debatte um das späte Eingeständnis von Günter Grass, bei der Waffen-SS gewesen zu sein, nicht beendet; da hatte das Feuilleton vom nächsten geschichtspolitischen Skandal zu berichten. Es ging um den Auftritt des stellvertretenden Bundesbeauftragten für Kultur und Medien Hermann Schäfer in Weimar. Der war eingeladen, bei der Eröffnungsveranstaltung des Kunstfestes ein Grußwort zu sprechen. Alljährlich steht die unter dem Motto "Gedenken Buchenwald". Doch nicht über die Opfer des NS-Konzentrationslagers sprach Schäfer, sondern über Flucht und Vertreibung der Deutschen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Eklat war da; die Rede wurde abgebrochen. Nun wurden Rücktrittsforderungen laut. Staatsminister Neumann bedauerte die ausgelösten Missverständnisse und Beeinträchtigungen zwar. Ansonsten sieht er die Sache aber offenbar als erledigt an. Schäfer habe sich schließlich entschuldigt. - Am Telefon begrüße ich jetzt Peter Steinbach. Er ist der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und Experte in Sachen Erinnerungskultur. Schönen guten Morgen!

    Peter Steinbach: Guten Morgen Herr Heckmann!

    Heckmann: Herr Steinbach, Hermann Schäfer meinte, er hätte nicht gewusst, dass Überlebende des Holocaust in den ersten Reihen sitzen würden. Er hätte sie stärker in die Rede einbinden können und wahrscheinlich auch müssen. Das habe er aber nicht getan, da ihm gesagt worden sei, es solle in der Rede um Erinnerungspolitik im Allgemeinen gehen. Ist für Sie Schäfer in seiner Position noch haltbar?

    Steinbach: Natürlich ist er haltbar. Es ist ganz sicherlich eine Ungeschicklichkeit, die er begangen hat, aber es ist keine Sache, die im Grunde auf den Kern seines eigenen Selbstverständnisses - ich kenne ihn auch sehr gut - verbunden ist. Ich glaube das Problem, das aufgebrochen ist, hängt mit der Art der deutschen Erinnerung zusammen, die natürlich ungeheuer komplex ist, weil es viele Leidensgeschichten nebeneinander gibt. Es gibt die Geschichte der Verhafteten in Buchenwald, es gibt die Geschichte der Vertriebenenkultur in Weimar, es gibt die Geschichte des Internierungslagers in Buchenwald, es gibt die Geschichte der Vertreibung, der Flucht, der politischen Verfolgung und das Problem jeder Erinnerung in Deutschland ist, dass sie diese vielfältigen Aspekte gleichzeitig sehen müssen, dass sie sie also in die politische, historische Erinnerung integrieren müssen. Das auszudrücken, das ist natürlich sehr, sehr schwierig und verlangt von allen Seiten eine ganz große Toleranz.

    Heckmann: Sie reden von einer Ungeschicklichkeit des stellvertretenden Kulturstaatsministers, aber der Redner war ja nicht irgendwer. Er hat ja immerhin diese Funktion. Er ist Historiker. Er war oder ist Gründungsdirektor des Hauses der Geschichte. Wie erklären Sie sich denn, dass einer solchen Person ein solches Missgeschick passiert?

    Steinbach: Herr Schäfer hat, wenn ich das richtig sehe, seine Ungeschicklichkeit, wie er sagt, selbst erklärt. Ob man das hinnehmen muss, ob man das hinnehmen kann, das wird ganz sicherlich von jedem abhängen. Ich glaube es hängt damit zusammen, dass wir im Augenblick eine Verschiebung der Akzente in der Erinnerung haben. Wir konzentrieren uns - und das zeigen die letzten Wochen ganz, ganz stark - auf das Thema Vertreibung. Auch das ist gewissermaßen deutschlandbezogen. Das hat der Historiker Peter Jahn neulich sehr deutlich gemacht, weil er sagt, es gibt auch eine Geschichte der Vertreibung innerhalb der Gesellschaften. Zum Beispiel vertreiben die Russen zehn Millionen ihrer eigenen Leute in den Osten und auch diese Geschichte wird zu betrachten sein. Dass wir es nicht tun zeigt, dass wir eine sehr ich möchte mal sagen teutonische Perspektive haben. Diese Art der Konzentration auf ein Thema, Vertreibung, Flucht, die Deutschen im Grunde in der Rolle des Opfers, führt bei aller Relativierung im Grunde dazu, dass wir in der Gefahr stehen, andere Aspekte zu übersehen. Das ist ganz sicherlich in dieser Rede spürbar und ich bin auch ganz sicher, dass Schäfer das sieht. Er hat ja selbst eine Vertreibungsausstellung initiiert und durchgeführt, die große Anerkennung gefunden hat, übrigens Widerspruch gefunden hat bei den Vertriebenen selbst, weil er den Aspekt der Integration betont. Geschichte ist ein politisch umkämpftes Feld und deshalb rückt natürlich jeder, der sich als politisch Verantwortlicher dazu äußert, in das Feld der Kritik. Das muss er aushalten und ich denke das ist ein wichtiges Beispiel auch für Schäfer, der ja nun als Museumsdirektor in Bonn Kritik gewohnt ist, Kritik aushält, aber auch zeigt, dass er Kritik positiv umsetzen kann.

    Heckmann: Sie sprechen von einer Akzentverschiebung. In der Tat ist es ja so, dass das Thema Vertreibung sehr stark in den Mittelpunkt gerückt ist, wie Sie gerade eben selber auch sagten. Besteht aber nicht die Gefahr, dass sich die Deutschen jetzt zunehmend und verstärkt nur als Opfer sehen?

    Steinbach: Die Gefahr ist da, wobei wir einfach anerkennen müssen, dass Leiden des Menschen immer individuell erfahren wird. Ein 12-jähriges Mädchen, das vergewaltigt wurde, dem wird man nicht sagen können, das ist die Strafe für das, was die deutsche Nation macht. Leiden ist immer individuell und Leiden rückt deshalb im Grunde auch individuelle Leidensgeschichten in den Blick. Wenn wir nicht lernen, eine Art integrales Verständnis, ein Wollen integral zu verstehen, was gelitten worden ist, von Menschen, von Gruppen, aus welchen Prinzipien auch immer, aber individuell gelitten worden ist, dann werden wir ein Opfer dieser Akzentverschiebung sein. Ich denke man kann von den unterschiedlichsten Opfergruppen verlangen, dass sie die Leiden anderer Opfergruppen in den Blick nehmen. Das ist im Augenblick eine ganz bedenkliche Entwicklung finde ich. Wir reden immer über Vertreibung, Vertreibungsfolgen und verlieren plötzlich aus dem Blick, dass es auch junge Menschen gibt, die zur Emigration gezwungen wurden, dass es junge Menschen gibt, die in die Konzentrationslager kamen, dass es verfolgte Sinti und Roma gab. Wir politisieren im Grunde jede geschichtspolitische Debatte und machen deshalb Geschichte zu einem politischen Kampffeld. Das kann ich übrigens an der Debatte in Weimar auch nicht ausschließen, dass hier gewissermaßen ein Einbruchstor benutzt wurde, um eine problematische Rede zu politisieren. Ich halte das für ein ganz, ganz gefährliches Vorgehen, das letztlich auch der Auseinandersetzung mit der Geschichte im Sinne dieses integralen Verständnisses schwer schaden wird.

    Heckmann: Man hört immer wieder, Herr Steinbach, die Kritik, dass der Holocaust zu sehr im Zentrum stehen würde in der schulischen Bildung beispielsweise. Ist die Tatsache, dass das Pendel jetzt quasi so in die andere Richtung schlägt, ein Zeichen dafür, dass diese Kritiker möglicherweise Recht hatten?

    Steinbach: Diese Kritik ist sicherlich berechtigt insofern, als wir natürlich bei Schülern in empirischen Untersuchungen spüren, dass sie sich abwenden: schon wieder dieses Thema! Das spricht aber nicht gegen das Thema, sondern das spricht vor allen Dingen gegen die Art, wie wir dieses Thema behandeln. Wenn wir zum Beispiel davon ausgehen, dass die Geschichte des Nationalsozialismus ein Teil der menschlichen Geschichte ist, dass nichts von dem, was sich im Nationalsozialismus verkörpert, uns deshalb heute fremd ist, dass wir natürlich auch heute noch Elemente des Fremdenhasses haben, dass wir uns unbehaglich fühlen was weiß ich in einem Bus, in dem Angehörige einer anderen Ethnie laut singen und so weiter, dann haben wir keinen Zugang, diese Zeit deutlich zu machen. Ich glaube wir können Geschichte benutzen, auch um unser eigenes Verhalten zu reflektieren, also zum Beispiel zu fragen: hör mal zu, wie verstehst du, wie fühlst du dich angesichts dieser Fremdheit, die du gegenüber einer fremden Ethnie in deinem Alltag empfindest. Hinzu kommt natürlich auch, dass wir in den letzten 15 Jahren eine Menge von Verfolgungsverbrechen, von Vertreibungsverbrechen vor unseren eigenen Augen gesehen haben. Ich erinnere wirklich an Srebrenica. Das ist elf Jahre her und wir waren alle Zuschauer. Wir können die Geschichte des Nationalsozialismus also nicht mehr mit der Attitüde der moralischen Erhebung über eine andere Generation präsentieren und ich denke darauf muss politische Bildung reagieren. Dann wird auch dieses Übersättigungsproblem sich lösen lassen.

    Heckmann: Peter Steinbach war das, der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, zum Thema Geschichtspolitik in Deutschland im Jahr 2006. Herr Steinbach, ich danke Ihnen für das Gespräch!

    Steinbach: Ich danke Ihnen auch!