Freitag, 19. April 2024

Archiv


Natur, Mystik, Mythos

An Gottfried Benn scheiden sich noch heute die Geister: Der Lyriker begrüßte die NS-Bewegung und ihre Glorifizierung von "Blut und Boden". Auf der anderen Seite hat der "letzte Dichter der deutschen Rechten", wie ihn der Lyriker Hans Magnus Enzensberger genannt hat, einige der schönsten deutschen Gedichte verfasst.

Von Stephan Reinhardt | 07.07.2006
    Mit der Veröffentlichung von neun Gedichten unter dem Titel "Morgue" wurde der junge Berliner Assistenzarzt und Schriftsteller schlagartig berühmt.

    "Kleine Aster. Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt./ Irgendeiner hatte ihm eine dunkel-hell-lila Aster/ zwischen die Zähne geklemmt./ Als ich von der Brust aus/ unter der Haut/ mit einem langen Messer/ Zunge und Gaumen herausschnitt/ muss ich sie angestoßen haben, denn sie glitt/ in das neben liegende Gehirn./ Ich packte sie ihm in die Brusthöhle/ zwischen die Holzwolle,/ als man zunähte./ Trinke dich satt in deiner Vase!/ Ruhe sanft,/ kleine Aster."

    Dies ist das erste von neun Gedichten, die im Frühjahr 1912 unter dem Titel "Morgue" erschienen. Sie machten den 1886 geborenen Berliner Assistenzarzt Gottfried Benn über Nacht berühmt.

    Benns lyrische Krankenblätter aus Kreißsaal und Krebsbaracke sind Schreie des Entsetzens. Zynisch erstickt in kaltem Medizinerjargon. Mit den "Morgue"-Gedichten und den experimentellen "Rönne"-Novellen radikalisierte Benn seine Kritik an der Aufklärung. Durch ihren Skeptizismus hätte sie, so der Pfarrerssohn Benn, die Einbettung des Menschen in das von Religion getragene Ganze aufgelöst, und epochalen Verfall bewirkt.

    Für den Anhänger Nietzsches war die Welt nur noch gerechtfertigt als "ästhetisches Phänomen". Nur das Gedicht noch zählte - und das, was sich als irrationalistische Lebensphilosophie gegen Rationalismus und Aufklärung in Gebrauch nehmen ließ: Natur, Mystik, Mythos.

    Geschichte und Leben dagegen - sie waren ohne Sinn, weil nur eine seit Urzeiten währende Abfolge von Katastrophen. Moralischer Protest und politische Gestaltung im Sinne der Menschenrechtsideen der Aufklärung waren für Benn ohne Sinn, weil alles nicht korrigierbares Schicksal war.

    Benns Gegenprogramm zu Aufklärung und Humanismus deckte sich mit dem Gedankengut konservativer "Revolutionäre" wie Ernst Jünger und Carl Schmitt. Benn begrüßte deshalb die nationalsozialistische "Bewegung" und ihre Glorifizierung von "Blut und Boden", Heimat und Volk.

    Vehement bekannte er sich 1933 zum NS-Regime, erklärte seine Bewunderung für den "Führer" und dessen Rassezüchtungsfantasien. Bis ihm Mitte 1934 der Röhm-Putsch - bei dem Hitler seine unliebsamen Widersacher ermorden ließ - die Augen öffnete. "Ein deutscher Traum", schrieb er seinem Freund Friedrich Wilhelm Oelze, "wieder einmal zu Ende." Benn gab seine Praxis in Berlin auf, und ließ sich als Sanitätsoffizier in Hannover anstellen.

    Als 1936 eine Gedichtauswahl von ihm erschien, griff ihn die NS-Presse angesichts früherer "Ferkeleien" scharf an. Erst als SS-Führer Heinrich Himmler ihm mit der Erklärung zu Hilfe eilte: "Benn hat sich seit dem Jahre 1933, und auch schon früher, in nationaler Hinsicht absolut einwandfrei gehalten", blieb er unbehelligt. Aus der Reichs-Schrifttumskammer ausgeschlossen, schrieb Benn nun für die Schublade.

    "Ein Wort. Ein Wort, ein Satz -: aus Chiffren steigen/erkanntes Leben, jäher Sinn,/die Sonne steht, die Sphären schweigen/und alles ballt sich zu ihm hin./Ein Wort, ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,/ein Flammenwurf, ein Sternenstrich -/und wieder Dunkel, ungeheuer,/im leeren Raum um Welt und Ich."

    Nach 1945 wurde Benn aufgrund seiner NS-Elogen zunächst mit einem Publikationsverbot belegt. Seine Bereitschaft, die ideologische Verstrickung in die NS-Diktatur zu erkennen, blieb gering. "Ich würde sagen, dass ich meine damaligen Positionen im wesentlichen aufrecht erhalte", schrieb er dem Freund Oelze. Dass das Politische und Soziale zum Menschsein hinzugehören, ignorierte Benn zeitlebens.

    Mit der Verleihung des Büchnerpreises 1951 kehrte der Ruhm in sein Leben zurück. Dem "letzten Dichter der deutschen Rechten", wie ihn der Lyriker Enzensberger genannt hat, verdanken wir einige der schönsten Gedichte. Heute vor 50 Jahren starb Benn.

    "Einsamer nie..."