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Naturalistisches Trauerspiel

Sie heißt nicht Salomé, sondern Julie - aber auch sie wünscht sich am Ende das Haupt eines Johannes - oder Jean - blutig auf einem Teller: Die Heldin in August Strindbergs Tragödie "Fräulein Julie", die nicht zufällig in der Mittsommernacht, der Johannisnacht spielt, wo schon seit Shakespeare die Liebesordnung durcheinander gerät. Heute vor 120 Jahren wurde "Fräulein Julie" uraufgeführt.

Von Ruth Fühner | 14.03.2009
    Der Skandal hielt sich notgedrungen in Grenzen. Die öffentliche Uraufführung von "Fröken Julie" an August Strindbergs Kopenhagener Privattheater war verboten worden - der Grund: eine aus Schweden lancierte Hetzkampagne. Der Dramatiker lebte zwar schon seit Jahren im Exil - doch in der Heimat nahm man ihm seine literarische Fundamentalkritik an den Stützen der Gesellschaft noch immer übel. So erblickte "Fräulein Julie", das erste naturalistische Schauspiel der schwedischen Dramatik, am 14. März 1889 bei einer geschlossenen Veranstaltung der Kopenhagener Studentenvereinigung das Licht der Bühne.

    "Heute Abend ist Fräulein Julie wieder total verrückt."

    Fräulein Julie - das ist eine junge Adlige, die sich im Rausch der Mittsommernacht dem virilen Diener Jean hingibt. Es beginnt ein ekstatisches, hasserfülltes, verzweifeltes Spiel um Aufstieg und Fall: den Fall der Grafentochter, den unbedingten Aufstiegswillen des Domestiken. Unerhört für eine Zeit, in der - von oben - die gesellschaftlichen Barrieren umso wütender aufrecht erhalten werden, je heftiger - von unten - an ihnen gerüttelt wird.

    "Ich träume immer ich sitze unter einem hohen Baum
    Ich träume immer
    in einem dunklen Wald
    ich sitze auf einer Säule, die ich hinaufgeklettert bin
    und ich will hinauf
    und sehe keine Möglichkeit, hinabzukommen,
    hinauf in den Wipfel und mich umschauen in der hellen Landschaft
    mich schwindelt, wenn ich hinabsehe
    die Vogelnester plündern dort oben wo die Goldeier liegen
    und hinab muss ich
    ich klettre und klettre
    aber ich habe nicht den Mut, mich hinabzustürzen
    aber der Stamm ist so dick
    ich kann mich nicht festhalten
    und so glatt
    und ich sehne mich so zu fallen
    und es ist so weit bis zum ersten Ast"

    Beide, Julie und Jean, träumen von Flucht, von einer Welt, in der sie ihre Herkunft hinter sich lassen können. Aber sie werden ihre Fesseln nicht sprengen, und der aufgestaute Klassenhass entlädt sich. Strindberg fühlt sich selbst zerrissen zwischen oben und unten. In seiner Autobiographie stilisiert er sich als "Sohn der Magd", obwohl der Vater eine mittelständische Schiffsagentur betrieb. Und so häufig er die Weltanschauungen wechselt, schlägt sein anarchisches Herz doch eher links, will sagen: nie auf der Seite der Herrschenden.

    "Knecht bleibt Knecht!
    Und Hure: Hure!"

    Doch es geht nicht nur um oben und unten in diesem Stück - schließlich ist Jean, der in Julie lediglich die erste Sprosse seines Aufstiegs sieht und ihr jenen Tritt versetzt, der sie in den Selbstmord treibt, nicht gerade ein Sympathieträger. Es geht auch um Strindbergs anderes großes Thema: den Geschlechterkampf. So wenig Strindberg mit seinen eigenen Selbstmordgedanken, seinen psychischen Krisen zurecht kommt, so wenig kommt er mit den Frauen zurecht. Er hasst sie und fürchtet sie - und er kann nicht ohne sie leben. Es ist seine erste Frau, die Schauspielerin Siri von Essen, die er bei der Uraufführung als Fräulein Julie am Zusammenprall von Gesellschaftsordnung und Sexualität zugrunde gehen lässt. Ihr legt er seinen Hass auf das große Unheil der Epoche in den Mund, die Frauen-Emanzipation:

    "Meine Mutter war eine Bürgerliche, etwas sehr Einfaches. Sie wuchs auf in den Lehren ihrer Zeit, Freiheit und Gleichheit der Frau und all das, mein Vater sollte ihr Liebhaber, sie aber niemals seine Frau werden. Ich kam zur Welt gegen den Willen meiner Mutter, glaube ich.

    Sie wollte ein Naturkind aus mir machen, ich sollte alles lernen, was ein Junge lernen muss, um ein Beispiel zu geben für die Ebenbürtigkeit von Mann und Frau ..."

    "Fräulein Julie" ist ein Fanal der Moderne, die alles mit sich reißt, was Sicherheit versprach - die Ordnung der Geschlechter, des sozialen Rangs - und das Theater selbst. Strindberg gibt seinem "naturalistischen Trauerspiel" ein Vorwort mit auf den Weg, das fast noch mehr Einfluss haben sollte auf kommende Dramatikergenerationen als das Stück selbst.

    "Ich ... habe die Hirne unregelmäßig arbeiten lassen, wie sie es in Wirklichkeit tun, wo in einem Gespräch kein Thema bis auf den Grund erschöpft wird, sondern wo zwei Hirne ineinandergreifen wie zwei Zahnräder. Und daher irrt auch der Dialog umher, er versorgt sich in diesen ersten Szenen mit einem Material, das späterhin bearbeitet wird, aufgenommen wird, wiederholt, entfaltet wird, erweitert wird, wie das Thema in einer Musikkomposition."

    Erst 1906, 17 Jahre nach der Uraufführung, findet "Fröken Julie" den Weg ans Folkteater in Stockholm. Eine Aufführungsgeschichte, die eher ins verklemmte Schweden eines Ingmar Bergman passt als in das bunte, freizügige Ikea-Land.