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Navid Kermani: "Sozusagen Paris"
Biotop einer links-ökologischen Mittelstandsfamilie

Navid Kermanis neuer Roman "Sozusagen Paris" handelt von Sehnsüchten der Liebe und ihrer unmöglichen Fortdauer in der Ehe. Der Ich-Erzähler, ein Autor, trifft auf einer Lesung seine Jugendliebe wieder. Wer die alltägliche Verquickung von Liebessehnsucht und Ehedramen liebt, kommt auf seine Kosten, findet unsere Kritikerin.

Von Marie Luise Knott | 28.10.2016
    Der Autor Navid Kermani.
    Der Autor Navid Kermani. (Bogenberger Photographie)
    Als Herr K. einmal gefragt wird, was er tue, wenn er einen Menschen liebe, lässt Bertolt Brecht ihn sinngemäß antworten: Ich mache mir einen Entwurf von meiner Liebe, und dann sorge ich dafür, dass der geliebte Mensch diesem Entwurf gleicht. Tatsächlich: Liebe ist aus Entwürfen, Projektionen, Ängsten, Hoffnungen und Sehnsüchten gemacht; Wut, Hass und Hilflosigkeit mischen sich mitunter hinein. Mit etwas Glück stellt sich hier und da das ersehnte Glück ein. Navid Kermanis neuester Roman "Sozusagen Paris" handelt von all diesem – von den Sehnsüchten der Liebe und ihrer unmöglichen Fortdauer in der Ehe. Von den Bildern, die wir uns voneinander machen; und davon, wie wir einander verbiegen und verbergen, uns in Selbstliebe verzehren und den anderen nach unserem Bilde zu formen trachten.
    Der Plot des Romans ist schnell erzählt: Ein fiktiver Autor, der dem realen Navid Kermani ähnelt, sitzt abends nach einer Lesung an einem Tisch und signiert seinen jüngsten Roman, der von seiner einstigen großen Schulhofliebe handelt. Eine flirrende Erinnerung an Zahnlücke und Zungenkuss. Plötzlich steht die damals Angehimmelte leibhaftig vor ihm, und so nimmt der Abend einen unerwarteten Lauf - immer von der bangen Wiedersehens-Frage mitgeprägt, die wir schon aus der Odyssee kennen: Ob sich wohl nach dreißig Jahren an etwas von damals wird anknüpfen lassen?
    Sinn fürs Komödiantische
    Jutta, wie die Angehimmelte im Roman heißt, ehedem Hausbesetzerin, ist heute Bürgermeisterin des Städtchens, verheiratet und Mutter dreier Kinder. Sie und der Autor verbringen den Abend und die Nacht miteinander: Sie essen mit den Veranstaltern, spazieren durch die Gassen und landen in Juttas modernem Einfamilien-Eigenheim – wo Skateboard, Fahrradhelme und Arzttaschen auf dem Boden herumliegen. Im Wohnzimmer halbangetrocknete Müslischalen und angebrochene Chipstüten. Wo sich der Autor, inzwischen längst verheiratet und auch längst wieder geschieden, leise eine Wiedersehens-Affäre erhofft, erzählt Jutta bei Wein und Tee ihre Ehegeschichte – die drall und äußerst präzise mit allem gespickt ist, was diese Brokdorf-Generation an Entwicklung so durchgemacht hat: Einst AKW, heute Mülltrennung.
    Einst kreisten die Gespräche um Antiimperialismus, heute um sensorgesteuerte Ampelschaltungen – und auf der Suche nach "Satisfaction" fanden Jutta und ihr Mann zu Tantra-Kursen. Auch Ehestreits um Kindererziehung und um das richtige Einräumen der Spülmaschine fehlen nicht. Scharf und mit Sinn fürs Komödiantische schildert Kermani das Biotop einer heutigen links-ökologischen Mittelstandsfamilie. Wer die alltägliche Verquickung von Liebessehnsucht und Ehedramen liebt, kommt auf seine Kosten.
    Unterbrochen wird die Erzählung des Abends durch Reflexionen des fiktiven Autors über das Schreiben. Besonders die eingeschobenen Gespräche mit dem kritischen Verlagslektor haben es in sich. Doch es gibt – wie immer bei Kermani – noch eine andere, eine dritte Ebene, die das Roman-Geschehen durchkreuzt. In all seinen Werken - Romanen, Essays und Abhandlungen - verteidigt Kermani seine Grundüberzeugung, dass die Welt mehr ist als das Hier und Jetzt, und mehr als der eigene individuelle Standpunkt der Welt-Anschauung. Immer denkt Kermani in mehreren Welten und auch in anderen Köpfen. In dem Roman "Große Liebe" kam die persische Mystik aus dem 12. Jahrhundert zu Wort, in "Das Buch der von Neil Young Getöten" der besagte Kultsänger und Gitarrist. Und als Kermani sich vor einigen Jahren in Rom als Moslem von der Kreuzigungsdarstellung eines Renaissance-Malers kritisch fasziniert zeigte, rief seine zwiefache Grenzüberschreitung einen Skandal hervor. Solche Ansteckungen sind Befreiungsschläge für das Denken.
    Texte als offene Begegnugsstätten
    In "Sozusagen Paris" nun hat Kermani die französische Eheliteratur des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hineingeholt - Proust, Maupassant, Stendhal, Flaubert. In ihnen will er sein Porträt der Liebe in Zeiten von freiem Sex und freier Scheidung spiegeln, doch die in die Geschichte eingewobenen Zitate wirken, anders als in Kermanis anderen Werken, herbeigeholt. Wie angelesen.
    Mehrstimmigkeit ist das Elixir von Kermanis Ruhm: Seine Begegnungen von Zeiten und Welten verteidigen in Zeiten zunehmender Abschottung, dass die Welt mehr ist als alles, was der Fall ist. Sie verteidigen das Vorhandensein von etwas ganz anderem - von Unerwartetem, Unerhörtem, und von Verloren-Geglaubtem. Denn Kermanis Denken, und das wird oft übersehen, hat die Kraft des Paria, jenes Außenseiters also, der verstanden hat, dass man sich und den anderen die eigene Zwiefach-Zugehörigkeit zunutze machen kann. Der Paria nämlich, so beschreibt es Hannah Arendt, in ihrem Essay über Heinrich Heine, sieht die Gesellschaft seiner Herkunft "entfernter und schärfer zugleich, wie durch die Gläser eines Teleskops". Und es ist diese gesteigerte Distanz und Schärfe, die Kermanis Kunst so besonders macht. Er ist als Kind iranischer Eltern hier in die Begegnung der Kulturen hinein aufgewachsen, so macht er seine Texte zu offenen Begegnungsstätten, was wir heute dringender brauchen denn je.
    Navid Kermani: "Sozusagen Paris. Roman."
    C. Hanser Verlag. 288 S., 22.- Euro.