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Nell Zink: "Der Mauerläufer"
Schräge Vögel

Die US-amerikanische Autorin Nell Zink erzählt in ihrem Roman "Der Mauerläufer" von einer Frau, die - entgegen den modernen Prinzipien der Emanzipation - dort verharrt, wo der Zufall oder ein Mann sie hinstellen. Damit legt Zink den Finger in eine Wunde, vor der wohl kaum jemand sich ganz zu schützen vermag: dem Wissen um das bloße Mitmachen des eigenen Lebens. 

Von Wiebke Porombka | 08.06.2016
    Die Autorin Nell Zink auf der Litcologne 2016.
    Die Autorin Nell Zink (dpa/picture alliance/Horst Galuschka)
    Der Mauerläufer gehört zur Familie der Kleiberartigen und lebt vorwiegend in steilen Felsgebieten. Wenn er sitzt oder sich am Boden bewegt, wird er aufgrund seines grauen Federkleids und seiner huschenden Bewegungen als mausähnlich beschrieben. Erhebt er sich aber in die Lüfte, dann kann man den Mauerläufer mit seinen außergewöhnlich breiten, rot umrandeten Flügeln schon mal mit einem Schmetterling verwechseln. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet dieser Vogel Nell Zinks Romandebüt den Titel verleiht: Die Verwandtschaft zwischen dem kleinen Vogel und der Ich-Erzählerin des Romans, Tiffany, ist augenfällig.
    Auch Tiffany wechselt beständig zwischen Unauffälligkeit und Genügsamkeit auf der einen und Eigenwilligkeit und Extrovertiertheit auf der anderen Seite ab. Provokant dürfte Nell Zinks Protagonistin dabei vor allem auf all jene wirken, die das Lebensmodell der emanzipierten, für ihr eigenes Auskommenden sorgenden jungen Frau für selbstverständlich halten:
    "Sogar Männer über siebzig, die mich nach Zusammenkünften wegen eines anstehenden Straßenfestes oder der korrekten Mülltrennung ansprachen, zogen die Stirn kraus, wenn ich sagte, ich sei meinem Mann von Philadelphia über Bern nach Berlin gefolgt. Mir fiel kein einziger Schritt ein, den ich zu meinem eigenen Fortkommen getan hatte. Für mich selbst, damit ich glücklich war, hatte ich zwar stets allerhand unternommen, aber stets in der Absicht, in der Nähe eines Mannes zu bleiben. Es war mir gar nicht in den Sinn gekommen, mich deshalb zu schämen. Ich hatte gedacht, Liebe wäre ein gesellschaftlich akzeptables Motiv. Aber für korrekt denkende Deutsche war ich ein hirnloses Flittchen, und in meiner privaten Historie hatte ich mich nie normaler gefühlt als in Gesellschaft anderer hirnloser Flittchen."
    Störrische Erzählperspektive
    Tatsächlich hat Tiffany ihren Mann Stephen geheiratet, nachdem sie ihn gerade einmal ein paar Tage kannte, und das nicht zuletzt deshalb, weil ihre Eltern Stephen für eine gute Partie hielten und den beiden jungen Leuten bereitwillig das Ausziehsofa für die erste gemeinsame Nacht zurechtmachten.
    Es mag an der teils lakonischen, teils beinahe autistisch anmutenden, in jedem Fall aber störrischen Erzählperspektive Tiffanys liegen, dass es schwerfällt, sich ein Bild von Stephen zu machen. Angestellt in einem Forschungsinstitut, gilt seine eigentliche Aufmerksamkeit seinen Schallplatten, vor allem aber den Vögeln. In dieser Fokussierung aufs eigene Begehren ist er seiner Frau durchaus ähnlich. Man hat den Eindruck, hier leben nicht wirklich zwei Menschen miteinander. Stattdessen scheint der jeweils andere allenfalls eine stabilisierende Rolle im Hintergrund zu spielen, während man sich im Vordergrund einigermaßen ungebremst den eigenen Leidenschaften hingibt. Gleich zu Anfang des Romans zeigt sich dieser Solipsismus in einer besonders drastischen Szene:
    "Ich schaute gerade auf die Karte, als Stephen plötzlich ausscherte, gegen den Felsen schrammte und die Fehlgeburt verursachte. Unmittelbar auffällig war nur meine klebrige Stirn. Vielleicht war ich ein paar Sekunden lang bewusstlos, ich weiß es nicht. Irgendwann sah ich Stephen an der Wagenfront herumhantieren und sagte: ‚Gott, was war das denn.' Er beugte sich zum Fenster herein und sagte: ‚Hey, du blutest ja. Warte mal eben.’ Er ging hinter dem Auto herum, sah nach links und rechts und holte den Vogel aus dem Graben auf der anderen Seite."
    Irritierende Kälte der Figuren
    Ob es auch der Vogel war, jener titelgebende Mauerläufer, der den Unfall allererst verursacht hat, lässt Nell Zink offen. Dass Stephen sich mehr um den im Straßengraben liegenden Vogel sorgt als um seine junge Frau, die nicht nur am Kopf blutet, sondern gerade das gemeinsame Kind verloren hat, mag allerdings ohnehin bestürzend genug anmuten. So wie dieses Kind nicht das einzige ist, dass Tiffany verliert, so bleibt diese Anfangsszene des Romans nicht der einzige Moment, in dem man sich fragt, hinter welcher Scheibe sowohl Stephen als auch Tiffany wohl gefangen sein mögen. Oder aber sich bewusst vor der Wirklichkeit verbergen. Achtsamkeit scheint ihnen in jedem Fall fremd.
    Immer wieder ist es die emotionale Kälte oder zumindest das Unbeteiligtsein der Figuren, die irritieren bei der Lektüre von Nell Zinks "Der Mauerläufer", der sich in unterschiedlich lange, mitunter nur ein paar Sätze umfassende Erzählabschnitte gliedert.
    Vermeintlich schmerz- und reflexionsfreie Perspektive
    Unverblümt erzählt das Paar sich gegenseitig von seinen außerehelichen Affären, ohne durch die des anderen sonderlich getroffen zu werden. Gerade bei Tiffany hat es zudem den Eindruck, als würde sie in ihre Liebschaften genauso gleichgültig hineintreiben wie vormals in ihre Ehe. Ähnliches gilt für ihr zwischenzeitliches Mitwirken an der Sabotage einer Elbbegradigung. Nicht wirkliches umweltpolitisches Engagement ist der Antrieb. Tiffany verharrt ganz einfach dort, wo der Zufall oder ein Mann sie hinstellen. In diesem Fall ist es der Umweltaktivist Olaf, mit dem sie eine Liebschaft eingeht, der sich allerdings recht bald wieder davon macht. Auch hier gilt: Ohne dass dies nachhaltige Erschütterungen bei Tiffany hervorrufen würde.
    Vermutlich entsteht gerade aus der vermeintlich schmerz- und reflexionsfreien Perspektive, die Nell Zink einnimmt, die Faszination, die von "Der Mauerläufer" ausgeht, diesem schmalen Roman, den man als beherzte, aber auch reichlich schräge Verweigerung einer Éducation sentimentale lesen kann. Nell Zink legt, ohne zu moralisieren, den Finger auf eine Wunde, vor der wohl kaum jemand sich ganz zu schützen vermag: dem Wissen um das bloße Mitmachen des eigenen Lebens.
    Nell Zink: Der Mauerläufer. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Überhoff. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016. 192 Seiten, gebunden, 19,95 Euro.