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Verlust von Diversität
"Geregelte Vielfalt ist keine mehr"

Wir sind umgeben von Überfluss. Das betrifft nicht nur Waren, sondern auch unsere Identität, sexuelle Orientierungen zum Beispiel. Und dennoch gebe es einen Verlust von Diversität und Mehrdeutigkeit, sagte der Islamwissenschaftler Thomas Bauer im Dlf. Er plädiert für mehr Mut zur Vagheit.

Thomas Bauer im Gespräch mit Anja Reinhardt | 01.09.2019
Thomas Bauer im Porträt.
Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer forscht zum Verlust von Mehrdeutigkeit (picture alliance / dpa / Julia Cawley)
Thomas Bauer hat sich mit dem Begriff der "Ambiguitätstoleranz" beschäftigt, den die Psychologin Else Frenkel-Brunswik 1949 erstmals aufbrachte, unter anderem in seinem Buch "Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt". "Es geht darum, wie man selber die Welt wahrnimmt und ob man damit umgehen kann, wenn Dinge einem rätselhaft sind, wenn sie unklar sind, wenn sie keine genaue Information hergeben." Ein Blick in die Geschichte zeige, dass gerade mit der Aufklärung das Klassifizieren auch von Menschen beziehungsweise Menschenrassen dazu geführt habe, dass es heute einen Verlust an Mehrdeutigkeit gebe.
Statt Mehrdeutigkeit immer neue Zwischenkategorien
Die Aufklärung habe auch im osmanischen Reich großen Einfluss gehabt, wo bis dahin das Vieldeutige ein prägendes Element gewesen sei. In der Literatur, in Religionspraktiken, aber auch im gesellschaftlichen Leben, wo es keine Einteilung in sexuelle Orientierungen gegeben hätte. "In der islamischen Welt war es eigentlich allgemein anerkannte Tatsache, dass man sich in junge hübsche Männer genauso verlieben kann wie in junge hübsche Frauen, und man hat es in der Literatur ausgelebt". Sexualität als Begriff sei ja überhaupt erst im 19. Jahrhundert entstanden.
"Die Idee, dass es zwei Geschlechter gibt, Mann und Frau, ist vielen Kultur, auch der islamischen Kultur sehr fremd. Pakistan hat sogar in der Gegenwart die Möglichkeit, ein drittes Geschlecht in den Pass einzutragen lange gehabt, bevor wir das in Deutschland hatten." Heute würden wir immer wieder neue Zwischenkategorien schaffen, aber die müssten dann alle ganz genau definiert sein – das sei das Gegenteil von Mehrdeutigkeit. Vagheit sei heute offenbar sehr schwer auszuhalten, konstatiert Bauer, aber geregelte Vielfalt sei eben keine Vielfalt mehr.
Artikel 1 des Grundgesetzes als Musterbeispiel von Vagheit
Im gesellschaftlichen Umgang sehe er immer mehr Eindeutigkeit, so Thomas Bauer. Beleidigungen und Beschimpfen seien nicht mehr unhöflich, sondern im Gegenteil authentisch und damit akzeptiert, da Authentizität ein hohes Gut sei. "Ein Präsident wie Donald Trump, der fortwährend andere Leute beleidigt, das wäre vor wenigen Jahren einfach nicht denkbar gewesen." Auf der anderen Seite hätten wir "political correctness", die dazu führe, dass viele sich permanent beleidigt fühlten.
Beim Grundgesetz, dessen 70. Geburtstag gerade gefeiert wurde, könne man sehen, dass Vagheit und Vieldeutigkeit einen höheren Sinn hätten. "Das schönste Beispiel ist Artikel 1 des Grundgesetzes: 'Die Würde des Menschen ist unantastbar.' Da hat man glücklicherweise darauf verzichtet, nähere Definitionen davon, was denn die Würde des Menschen ist, anzufügen. Das bleibt über die Zeiten gültig, auch wenn sich unsere Vorstellungen von der Würde des Menschen ändern." Alles, was wirklich zähle, so Bauer, müsse einen Ambiguitätsspielraum haben. Und das müssten wir wieder lernen auszuhalten.