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Neskovic: Bei Geheimdiensten darf es keine "kontrollfreie Zone" geben

Immer dann, wenn die Exekutive und das Parlament kontrollierend auf die Geheimdienste Zugriff nehmen wollten, verweisen diese auf den Geheimnisschutz, sagt Wolfgang Neskovic. Der Politiker der Linkspartei und Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums, fordert eine verstärkt Begründungs- und Dokumentationspflicht.

Wolfgang Neskovic im Gespräch mit Dirk Müller | 04.07.2012
    Dirk Müller: Ein Staatsskandal ersten Ranges, ein überfälliges Überbleibsel des Kalten Krieges, so jedenfalls charakterisieren Teile der Opposition die Vorgänge beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Jüngstes Stichwort: Aktenvernichtung. Der Chef des Geheimdienstes hat die Konsequenzen gezogen, seinen Hut genommen. Die vielen Fragen und die vielen Ungereimtheiten bleiben. Morgen wird Heinz Fromm dem Untersuchungsausschuss des Bundestages Rede und Antwort stehen. In Bayern wird auch darüber diskutiert, ebenfalls einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, um die Rolle der Landesverfassungsschützer in der NSU-Mordserie genauer unter die Lupe zu nehmen. Und auch die Thüringer Behörde steht immer heftiger in der Kritik, gestern Abend nun das Aus für Präsident Thomas Sippel.
    Die Forderungen nach umfassenden Reformen werden immer lauter, so auch gestern bei uns im Deutschlandfunk Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich.

    O-Ton Hans-Peter Friedrich: "Man muss natürlich grundsätzlich über die Arbeitsweise dieser Behörde Verfassungsschutz sich Gedanken machen, über den Aufbau, die Mentalität, ob es noch zeitgemäß ist, ob man einiges ändern muss, und dann natürlich auch die Frage der Kontrolle durch die parlamentarischen Gremien. Der Nachrichtendienst ist ja nicht für sich da, sondern er ist für die Information der Bevölkerung beziehungsweise der Abgeordneten als Vertreter der Bevölkerung da."

    Müller: Gestern im Deutschlandfunk Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU). - Wie groß ist das Versagen der viel zitierten Schlapphüte? - Am Telefon ist nun der linke Innen- und Rechtspolitiker Wolfgang Neskovic, zugleich Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium PKG, das eben zur Aufgabe hat, unsere Geheimdienste parlamentarisch zu kontrollieren. Guten Morgen!

    Wolfgang Neskovic: Ja schönen guten Morgen!

    Müller: Herr Neskovic, brauchen Sie noch den Verfassungsschutz?

    Neskovic: Ja! Ich glaube, wir brauchen den Verfassungsschutz. Wir müssen uns davor hüten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Ich verstehe die Kritik, die ist auch berechtigt, aber wir schaffen ja auch nicht die Feuerwehr ab, wenn sie bei der Brandlöschung versagt. Wir benötigen einen Verfassungsschutz, weil die Verfassung echte Feinde hat, und wir können die Aufgabe, die Verfassung zu schützen, ohnehin nicht abschaffen. Das wäre selbst ein Verfassungsverstoß. Statt Abschaffung des Verfassungsschutzes müssen wir den Verfassungsschutz jedoch gründlich evaluieren und umfassend reformieren.

    Müller: Das heißt, grundsätzlich - wir sehen mal ab von dem gesamten NSU-Komplex - sind Sie zufrieden mit der Arbeit der Verfassungsschützer?

    Neskovic: Nein, das bin ich nicht. Man muss sich, wenn man eine Reform herangeht, vorstellen, dass der Verfassungsschutz eine Behörde ist wie jede andere. Das bedeutet, man muss auch beim Verfassungsschutz die Kontrollstrukturen einführen, die auch für jede andere Behörde gelten. Also Verantwortlichkeiten müssen klar definiert werden, bei wichtigen Entscheidungen muss das Vieraugenprinzip gelten, außerdem müssen verstärkt Begründungs- und Dokumentationspflichten eingeführt werden, nur so können Verantwortlichkeiten besser festgelegt werden, sodass auch Sanktionen für Fehlverhalten erfolgreicher werden. Gerade bei Geheimdiensten darf es keine kontrollfreien Zonen geben.

    Müller: Dann wollen Sie aus einem Geheimdienst ein offenes Haus machen?

    Neskovic: Im Prinzip ist es so, dass wir den Geheimdiensten genau den Mythos des Geheimen nehmen müssen, denn Geheimdienste unterscheiden sich von anderen staatlichen Behörden im Kern dadurch, dass sie sich der administrativen und auch der parlamentarischen Kontrolle mit dem Zauberwort "Geheim" entziehen. Immer dann, wenn die Exekutive und das Parlament kontrollierend auf die Geheimdienste Zugriff nehmen, entmutigen sie die Kontrollorgane, indem sie auf den Geheimnisschutz verweisen. Meine nunmehr fast siebenjährige Erfahrung mit den Geheimdiensten zeigt, dass 80 bis 90 Prozent aller Informationen im Kern nicht geheimhaltungsbedürftig sind, zumindest nicht den Geheimhaltungsgrat haben, mit dem sie versehen werden.

    Müller: Sie meinen damit aber nicht, Herr Neskovic, dass die Agenten sich demnächst "Verfassungsschutz" dann auf ihre Mäntel schreiben?

    Neskovic: Nein, das mit Sicherheit nicht. Dass es einen Bereich gibt, in dem Geheimhaltung geboten und auch unbedingt erforderlich ist, ist klar. Aber es gibt eben einen größeren Bereich, in dem Geheimhaltung praktiziert wird, obwohl sie nicht notwendig ist. Und der einzige Zweck ist es, eigentlich die Kontrolleure zu entmutigen. Das gilt auch für die Rechtsprechung. Wir haben in letzter Zeit einige Gerichtsurteile, die sich diesem Trend entgegenstemmen und die zumindest überhaupt plausible Begründungen erfordern. Ansonsten sagen die Geheimdienste nur, das ist geheim oder Quellenschutz. Das sind immer Behauptungen und das sind im Grunde genommen intellektuelle Tabugrenzen und die müssen durchbrochen werden. Wenn der Geheimdienst letztlich ein Dienst ist, der Informationen, die er auch in erster Linie ohnehin aus öffentlichen Quellen gewinnt, zur Beschaffung herbeiführt, damit die Politik und auch andere Sicherheitsbehörden entsprechende Entscheidungen treffen können, dann ist das eigentlich die Sinnhaftigkeit der Geheimdienste.

    Müller: Und damit ist das für Sie ganz klar: Bislang hat diese Kontrolle, diese Überprüfung, diese Überwachung nicht funktioniert?

    Neskovic: Nein, die hat bisher nicht funktioniert. Wir müssen natürlich auch eine viel bessere auch parlamentarische Kontrolle haben. Einmal gibt es ja die Kontrolle der Regierung, die Exekutive über die Geheimdienste, und wir kontrollieren genau diese Kontrolltätigkeit der Regierung. Die funktioniert zurzeit auf Bundesebene nicht. Wir brauchen viel mehr Zeit, wir brauchen viel mehr Mitarbeiter. Insbesondere kann es nicht angehen, dass die parlamentarische Kontrolle davon abhängig ist, ob die Mehrheit im Gremium - das ist im Regelfall natürlich die Regierungsfraktion - es in der Hand hat, ob und in welchem Umfang überhaupt kontrolliert wird. Das führt die Kontrolle ad absurdum, wenn die Regierungsfraktionen es in der Hand haben, ob ihre eigenen Leute letztlich der Kontrolle zugeführt werden oder nicht. Das ist so, als wenn in einem Strafprozess der Angeklagte über den Umfang der Beweisaufnahme bestimmt.

    Müller: Also demnach ist auch die Kontrolle der Geheimdienste eine parteipolitische Frage?

    Neskovic: Zurzeit ja. Wir haben leider nicht die rechtlichen Voraussetzungen, die die Geheimdienstkontrolle von diesem Korsett zu befreien. Wir brauchen unbedingt da einfach mehr parteipolitische Unabhängigkeit, die dahin führt, dass in diesem Bereich das Spannungsverhältnis nicht zwischen Parlament und Regierung ist, sondern zwischen Minderheit und Mehrheit. Hier müssen die Minderheitenrechte ganz klar gestärkt werden, das ist leider nicht der Fall.

    Müller: War das jemals anders, zum Beispiel unter der Schröder-Regierung?

    Neskovic: Nein, das war nie anders. Es ist eben so, dass die Geheimdienste es geschafft haben, sich so einen relativ kontrollfreien Raum zu erwirtschaften. Wir haben bei der parlamentarischen Kontrolle dieses klare Defizit. Es ist sogar so, weil wir ja auch noch den BND [Anm. d. Redaktion: Bundesnachrichtendienst] kontrollieren, dass die Informationen, die ausländische Geheimdienste den deutschen Geheimdiensten geben, nicht unserem Kontrollzugriff unterliegen. Das bedeutet, dass ich als Parlamentarier, der direkt gewählt ist und der auch noch die große Mehrheit des Parlaments hinter sich hat, weniger wissen darf als ein Angestellter der Regierung. Das ist demokratietheoretisch unerträglich.

    Müller: Aber Sie wissen ja auch weniger als der Angestellte im Finanzamt in der Regel.

    Neskovic: Ja, aber ich habe jederzeit den Zugriff. Das ist das Entscheidende. Dort gibt es diese gesetzlichen Sperren nicht, die das Gesetz über die parlamentarische Kontrolle enthält. Das ist das Entscheidende.

    Müller: Bleiben wir bei der politischen Verantwortung. Welche Rolle spielt ein Bundesinnenminister und welche Rolle spielt konkret Hans-Peter Friedrich?

    Neskovic: Ja ich meine, wenn jetzt Herr Fromm zurücktritt, ehrt ihn das, wenn er in dieser Situation um Entlassung bittet. Das haben andere Behördenchefs in vergleichbarer Weise nicht getan. Aber es darf kein Bauernopfer sein. Wir müssen sehen, dass der Innenminister derjenige ist, der die politische Verantwortung für den Verfassungsschutz trägt, und das geht bei dieser Diskussion verloren. Herr Fromm hat eigentlich mit der Bitte um seine Entlassung Herrn Friedrich ein wenig geschützt, ich halte das für falsch. Er ist derjenige, der als Minister eigentlich jetzt anfängt, Fragen zu stellen, die er schon längst hätte stellen müssen, denn dass der Verfassungsschutz administrativ nicht ausreichend kontrolliert wird und parlamentarisch ohnehin nicht, das ist offenkundig. Und das jetzt in dieser Situation, wo das auch vielen Bürgerinnen und Bürgern klar wird, zu thematisieren, zeugt von politischem Versagen.

    Müller: Um da jetzt noch mal nachzufragen, Sie haben das Stichwort selbst gebracht: Heinz Fromm ist für Sie ein Bauernopfer?

    Neskovic: Ja, das sehe ich so. Das ehrt ihn, dass er das von selbst gemacht hat. So wie ich ihn einschätze, ist das auch so gewesen. Ich bedauere das deswegen, weil wir eigentlich in der Arbeit, die ich jetzt in den sieben Jahren dort erlebt haben, Herrn Fromm als jemanden kennengelernt haben, der auch der parlamentarischen Kontrolle gegenüber offen steht und auch im Wesentlichen die Fragen, die man gestellt hat, zuverlässig beantwortet hat.

    Müller: Glauben Sie denn, dass Ihre Vorschläge beim Innenminister, um noch mal auf Hans-Peter Friedrich zurückzukommen, auf offene Ohren stoßen?

    Neskovic: Das kann ich so nicht richtig einschätzen oder abschließend einschätzen. Ich kann nur hoffen, dass sie in der Öffentlichkeit die nötige Resonanz finden und dass damit ein entsprechender politischer Druck entsteht, dem sich auch Herr Friedrich nicht entziehen kann.

    Müller: Was macht der Rest der Opposition, die Grünen, die Sozialdemokraten? Auf Ihrer Seite?

    Neskovic: Ja die Sozialdemokraten sind wie immer unzuverlässig, also mal so, mal so. Wenn ich das nur in der Arbeit im Parlamentarischen Kontrollgremium sehe: Herr Oppermann fährt da immer einen sehr wankelhaften Kurs. Aber mit Herrn Ströbele, also mit den Grünen gibt es in dem Bereich keine Probleme.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Wolfgang Neskovic, Innen- und Rechtspolitiker der Linksfraktion im Bundestag. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Neskovic: Ich danke auch.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.