Freitag, 19. April 2024

Archiv


Nestbeschmutzer auf Reisen

Der Schriftsteller Andrzej Stasiuk war in der Vergangenheit für manche Kontroverse gut, jedenfalls in seinem Heimatland Polen. Den einen galt er als Kultautor. Für andere verkörperte er vor allem den Typus des "Nestbeschmutzers", erpicht darauf, nationale Werte in Frage zu stellen. Doch solche Kontroversen scheinen erst einmal der Vergangenheit anzugehören.

Von Martin Sander | 03.11.2005
    Anfang Oktober wurde Stasiuk jedenfalls höchste literarische Ehre zuteil. In Warschau verlieh ihm eine hochkarätige Jury den "Nike"-Preis, die bedeutendste polnische, mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung für Literatur. Prämiert wurde "Unterwegs nach Babadag", eine Sammlung von Reiseberichten durch Osteuropa.

    Seit den neunziger Jahren ist Andrzej Stasiuk von seinem Wohnsitz in den südpolnischen Beskiden immer wieder zu Reisen aufgebrochen – gen Osten, vor allem aber nach Süden. In Rumänien, Albanien, Ungarn, der Slowakei oder der Ukraine, in Slowenien, Kroatien und Moldawien liegen jene Orte, aus denen Stasiuk seine persönliche osteuropäische Landkarte entwickelt.

    "Auf Deck reihte sich zwischen ein paar sauber geputzte Autos ein grauer Dacia Kombi, mit einem großen, tierisch stinkenden Eber auf der Pritsche. Sie mussten einen langen Weg hinter sich haben, denn das Tier war bis zum Rücken eingeschissen. Ich sog lustvoll den Gestank ein, streifte den hinteren Kotflügel eines schwarzen Mercedes, in dem ein kahlrasierter Typ mit schwarzer Sonnenbrille und eine Blondine mit Gold an den Ohren saßen, und schaute aufs andere Ufer der Donau, auf die großen rostenden Kräne des Hafens. Das war mein Rumänien – diese vorübergehende Bruderschaft von Mercedes, Gold, Schweinegestank und trostlosen Industrieanlagen…"

    Andrzej Stasiuk zeigt sich fasziniert von der Ursprünglichkeit der Lebensverhältnisse. Er preist das Mit- und Nebeneinander von Mensch und Tier bis hin zu Details wie den Kuhfladen, die auf dem Asphalt glänzen. Der Autor begeistert sich für den Zerfall von Industrieanlagen. Auch stinkende Müllhalden wecken seine Leidenschaft. Die niedergedrückte, apathische Stimmung der Säufer in den Dorfkneipen zieht ihn magisch an – ebenso wie das bedrohlich-groteske Erscheinungsbild ortsansässiger Mafiosi. Das Leben der Zigeuner in Osteuropa stilisiert Stasiuk gar zum Modellfall künftiger menschlicher Existenz, ohne dass man so recht weiß, wie ernst er es damit meint.

    "Ich sollte einen Katalog anlegen, eine Enzyklopädie all dieser Ereignisse und Orte, ich sollte eine Geschichte schreiben, in der die Zeit keine Rolle spielt, die Geschichte von der Ewigkeit der Zigeuner, denn ich habe den Eindruck, dass sie dauerhafter und klüger ist als unsere Staaten und Städte, als unsere ganze Welt, die vor der Vernichtung zittert. "

    Andrzej Stasiuks Reiseberichte erweisen sich – der hohen polnischen Auszeichnung zum Trotz – als Enttäuschung. Denn sie bilden eine Abfolge immer gleicher oder wenigstens zum Verwechseln ähnlicher Bilder. Diese Bilder dokumentieren vor allem eines: Die nahezu grenzenlose Sozialromantik eines Schriftstellers, der Tausende und Abertausende Kilometer durch Europa zurücklegte, um dem Leser am Ende eine monotone, unterschiedslose Welt darzubieten. Armut und Elend der Transition ziehen Stasiuk magisch an und dominieren derart, dass kaum noch Raum bleibt für Entwicklungen, Gegensätze oder Besonderheiten innerhalb der Gesellschaften, die er erkundet.

    Überdies verschwimmen auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern, die der Autor bereist hat. In vielerlei Hinsicht disparate Lebenswelten - etwa Albaniens und Kroatiens – werden nur noch als ein Europa zweiter oder dritter Klasse namens Balkan sichtbar.

    Zwar lässt Stasiuk gelegentlich Autoren aus den Ländern, die er uns vorstellen will, zu Worte kommen: den Rumänen Emil Cioran, den Slowenen Edvard Kocbek oder den Ungarn Péter Esterházy. Doch auch diese Zitate erscheinen wiederum nur als Beleg für Stasiuks eigene Sicht der Dinge. Man kann eine solche Optik natürlich wählen. Überzeugend ist sie allerdings nicht, geschweige denn originell. Was auf den ersten Blick philosophisch tiefgründig anmutet, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als oberflächliche, im Grunde von Vorurteilen gesteuerte Betrachtung der Welt.

    Auch stilistisch bleibt der Autor hinter den Erwartungen zurück, die er mit seiner Prosa über die polnische Provinz einst geweckt hat. Zu oft konfrontiert er uns mit den "Hintern der Autos", "den roten Strahlen der Abendsonne" oder dem "Halbdunkel der schattigen Höfe". Die sprachlichen Klischees sind schon bald so ermüdend wie Stasiuks stereotyper Gedanke von Osteuropa als Inbegriff von Armut und Anarchie auf der einen und authentischem, wahren Leben auf der anderen Seite.

    "Ja, ich liebe dieses balkanische Chaos, das ungarische, slowakische, polnische, diese wunderbare Schwerkraft der Materie, diese herrliche Schläfrigkeit, dies Pfeifen auf die Tatsachen, die ruhige, konsequente Sauferei am Mittag und die glasigen Blicke, die mühelos durch die Wirklichkeit hindurchgehen, um sich furchtlos dem Nichts zu öffnen. "
    Wer sich mit der Krise im Schaffen eines zweifellos bedeutenden polnischen Gegenwartsautors namens Andrzej Stasiuk vertraut machen möchte, sei auf dieses Buch verwiesen. Wer von Stasiuks Reiseberichten neue literarische Einblicke in die Gesellschaften Osteuropas erwartet, kann auf die Lektüre getrost verzichten.